Young Sherlock Holmes 4
haben sie sich erst einmal darangemacht, sich einen Unterschlupf zu besorgen, während sie euch Zeit geben wollten, Kontakt mit Mr Crowe aufzunehmen – oder er mit euch. Heute Morgen haben sie dann beschlossen, euch abzufangen und rauszufinden, ob ihr mehr wisst als ich. Was offensichtlich nicht der Fall ist.«
»Tatsächlich«, erwiderte Sherlock, »ist das
doch
der Fall.« Er warf einen kurzen Blick auf die Zeitung, die nun als durchweichter Haufen am Boden lag. Aber das machte nichts – er hatte sich die Botschaft eingeprägt. »Was wir allerdings immer noch nicht wissen, ist, warum sie eigentlich hinter Mr Crowe her sind.« Er wandte den Blick auf Rufus’ Hände. »Sind Sie … werden Sie wieder Violine spielen können?«
»Machst du dir Sorgen um unsere Unterrichtsstunden? Rückzahlungen waren nicht vereinbart, Junge.« Rufus hielt sich die Hände vor das Gesicht und beugte probehalber die Finger. Vor Schmerzen verzog er das Gesicht, aber er machte unverdrossen weiter. »Muskeln und Sehnen sind intakt. Die Schnitte und Abschürfungen werden mit der Zeit heilen. An Paganini werde ich mich nicht so schnell versuchen, aber den Rest des Repertoires sollte ich beherrschen.«
Sherlock schaute sich um. »Was ist mit dem Mann passiert, der die Fragen gestellt hat? Der mit dem Totenschädelknauf an seinem Spazierstock?«
Rufus runzelte die Stirn. »Ist der nicht an dir vorbeigekommen? Ich dachte, er ist die Treppe runter.«
»Ich hab’ ihn nicht gesehen.« Plötzlich kam Sherlock wieder in den Sinn, wie das Licht vom Fenster einen Moment lang auf das Gesicht des Mannes gefallen war, und er fügte hinzu: »Was stimmte eigentlich mit seiner Haut nicht?«
»Ah, ist dir das auch aufgefallen?« Auf Sherlocks Nicken hin fuhr Rufus fort. »Er war überall tätowiert: im Gesicht, am Hals, an Händen, Armen … überall.«
»Was waren das für Tätowierungen?«, fragte Sherlock.
»Namen«, antwortete Stone. »Namen von Leuten. Einige waren mit schwarzer und ein paar mit roter Tinte eintätowiert. So auch einer, den er auf der Stirn trug und der größer als alle anderen war.« Er schaute auf und begegnete Sherlocks Blick. »Es war der Name von Virginia Crowe«, sagte er.
11
Sherlocks Herz erstarrte zu Eis. Aber bevor er fragen konnte, warum der Mann Virginias Namen auf die Stirn tätowiert haben sollte, hob der Musiker erstaunt eine Augenbraue, als hätte er soeben erst richtig begriffen, wovon kurz zuvor die Rede gewesen war. »Du weißt, wo Amyus Crowe steckt?«
»Er hat uns eine Nachricht in der Zeitung hinterlassen«, antwortete Matty. »’Ne codierte Nachricht, aber wir haben es rausbekommen.«
Sherlock starrte Matty an und hob angesichts des ›Wir‹ nun seinerseits eine Augenbraue, aber Matty reagierte nur mit einem unschuldigen Lächeln.
»Gut gemacht.« Rufus Stone blickte sich um. »Wir sollten sehen, dass wir hier wegkommen, bevor unser Freund zurückkehrt.«
Sie stiegen die Treppe hinunter und durchquerten den Raum im Erdgeschoss, wobei Sherlock und Matty einen respektvollen Bogen um die beiden Schläger machten, die sich immer noch stöhnend vor Schmerzen krümmten. Rufus jedoch blieb bei ihnen stehen und starrte einen Moment auf sie herab. Das Funkeln in seinen Augen ließ darauf schließen, dass er mit dem Gedanken spielte, ihnen einen Teil der Schmerzen, die sie ihm bereitet hatten, heimzuzahlen. Aber dann wandte er sich ab und ging weiter. »Wir könnten sie ausquetschen«, sagte er nachdenklich, als wäre die Vorstellung immer noch verlockend. »Aber so wie die Kerle aussehen, sind das ziemlich harte Nüsse.«
»Also, ich weiß nicht«, meinte Matty, der Rufus’ Blick gefolgt war. »Für mich sehen die schon ziemlich geknackt aus.«
Rufus ging nach draußen voran ins Tageslicht. Der Himmel war von einer metallen schimmernden Wolkendecke verhangen, die alles in ein trostloses Licht tauchte. Neugierig schaute Sherlock sich um. Er hatte vermutet, dass sie sich in einem einfachen Haus befunden hatten. Aber als er jetzt auf die Gebäude in ihrer Umgebung blickte, einschließlich desjenigen, aus dem sie gerade gekommen waren, stellte er fest, dass er falsch gelegen hatte. Die dicht an dicht in Blöcken zusammenstehenden Häuser waren sechs Stockwerke hoch, wobei ein Block so lang wie ein halber Straßenzug war. Die einzelnen Häuserblöcke wiederum waren durch schmale Durchgänge voneinander getrennt, die wie gerade Pfade zwischen senkrechten Steilklippen wirkten. Die Untergeschosse waren
Weitere Kostenlose Bücher