Young Sherlock Holmes 4
bereits in die Höhe. In seinen Fingern machten sich erste Anzeichen eines Krampfes bemerkbar. Er war nicht sicher, wie viel länger er seinen Körper noch in dieser Position halten und verhindern konnte, dass ihm das Seil das letzte bisschen Luft abschnitt.
Der Mann zu Sherlocks Füßen rammte den Angelhaken in das Seil und ließ los. Der schwere Stein stieß mit einem lauten Klack gegen den, der bereits an seinen Füßen hing. Sherlock hatte das Gefühl, auf einmal doppelt so schwer zu sein wie in dem Moment, als sich die Schlinge zum ersten Mal um seinen Hals gezogen hatte. Schulter- und Armmuskeln zitterten vor Anstrengung, sein Gewicht zu halten. Das Herz hämmerte in der Brust, und sein Blickfeld war auf einen münzgroßen Kreis im Zentrum einer abgrundtiefen rötlichen Finsternis geschrumpft. Das Seil um die Knöchel grub sich unbarmherzig in sein Fleisch, und das Gewicht fühlte sich an, als würde es ihm jeden Moment die Beine aus dem Rumpf reißen. Der Mann zu Sherlocks Füßen wechselte die Position, und aus der Ferne hörte Sherlock, wie unter ihm die Dielenbretter ächzten. Auch der Mann, der ihn hochgezogen hatte, bewegte sich und machte einen Schritt nach rechts. Wieder vernahm Sherlock, wie die Bodenbretter unter seinem Gewicht ein Knarzen von sich gaben. Das Geräusch war in Anbetracht des wild rauschenden Blutstroms in seinen Ohren kaum noch hörbar, doch es ließ ein Fünkchen Hoffnung in ihm aufkeimen. Die Bretter waren alt und verrottet. Und das brachte ihn auf eine Idee. Aber die zeitliche Abstimmung musste perfekt sein, andernfalls würde es nicht funktionieren.
»Du scheinst deine Situation auf einzigartige Weise misszuverstehen«, sagte der stille Mann. Seine Stimme schien von weit her zu kommen. »Deine Schmerzen müssen bereits enorm sein, und ich sehe nicht, dass du noch mehr als eine oder zwei Fragen überlebst. Ich bewundere deine innere Stärke, das tue ich wirklich, aber sind deine Freunde die Qualen wirklich wert? Würden sie letzten Endes auch für dich sterben?«
Sherlock musste die Antwort Silbe für Silbe an seinem gequetschten Kehlkopf vorbeipressen. »Ist … e … gal … was … sie … tun … wür …den.« Er japste nach Luft. »Wich… tig … ist … was … ich … tu’!«
»Ah, ein Mann mit Prinzipien. Wie selten – und wie sinnlos.« Wieder stieß der stille Mann einen Seufzer aus. »Ich werde noch einmal fragen, und dieses Mal rate ich dir wirklich, dass du mir eine Antwort gibst, mit der ich etwas anfangen kann. Also, wo ist Amyus Crowe jetzt?«
»Ich … weiß … nicht!«, brachte Sherlock mühsam hervor.
Erneut hob der stille Mann die Hand. Sherlocks Kopf wurde durch das Gewicht an seinen Füßen und dem an seinem Hals zerrenden Strang mittlerweile in einem solchen Winkel in den Nacken gerissen, dass er nicht mehr nach unten blicken konnte. Doch er hörte, wie Stein über Holz schrammte, als der Mann, der zu seinen Füßen kauerte, einen weiteren Stein aus den Schatten beförderte. Wie viele hatte er wohl noch da unten?
Es folgte eine kurze Pause, während der der Mann den Stein am Seil befestigte und ihn schließlich losließ. Der jähe Schmerz, der ihm durch den Körper fuhr, war so entsetzlich, als hätte Amyus Crowe höchstpersönlich Sherlocks Beine gepackt und würde mit seinen Bärenkräften daran ziehen. Sherlocks Arme waren kurz davor, aus den Gelenken zu reißen, als er sich an das Seil über seinem Kopf klammerte, verzweifelt darum bemüht, dass sich nicht das gesamte Gewicht auf die Schlinge um seinen Hals übertrug. Aber dennoch fraß sie sich bereits so tief hinein, dass er kaum noch atmen konnte. Das Problem war nur, dass er die Dinge noch schlimmer machen musste, wenn er entkommen wollte.
Mit seinen letzten Energiereserven versuchte er, mit der rechten Hand das straff gespannte Seil über seinem Kopf noch fester zu packen, und spannte die Armmuskeln so stark an, wie er nur konnte. Dann löste er die linke Hand vom Seil.
Sein gesamtes Körpergewicht und die drei Steine wurden nun auf einmal einzig und allein von der rechten Hand getragen – und seinem Hals. Bevor die Finger vom Seil rutschten und die gesamte Last dem Hals überlassen blieb, fuhr seine Linke nach unten in seine Hosentasche. Seine Finger schlossen sich um den Griff von Mattys Messer – dasjenige, mit dem sein Freund in Josh Harkness’ Gerberei ein Loch in den Bottich gebohrt und das Sherlock benutzt hatte, um die Löcher in Amyus Crowes Cottage zu einem
Weitere Kostenlose Bücher