Young Sherlock Holmes 4
von Eingangstüren gesäumt, die oberen Stockwerke von Fenstern, bei denen in über der Hälfte der Fälle die Scheiben fehlten. Die Gebäude sahen seelenlos und leer aus und wirkten eher wie Ameisenhügel als Orte, an denen Menschen lebten.
»Was sind denn das für Dinger?«, fragte Sherlock.
Wider Erwarten war es Matty, der die Antwort parat hatte. »Mietskasernen«, sagte er. »Die kenn’ ich noch vom letzten Mal, als ich hier war. Gibt’s überall hier in der Gegend. Darin kannste billig wohnen. Dafür kriegste letztendlich aber nur zwei Zimmer zugeteilt, die du dein Eigen nennen darfst, und bist wie in einem Gefängnis ringsum eingepfercht von den Zellen, sprich Zimmern, anderer Leute. Jeder Raum sieht gleich aus: gleiche Türen, gleicher Wandputz, gleiche Fensterrahmen. Die Leute, die da leben, versuchen mit Vorhängen, Blumentöpfen und lauter so Zeugs ihrer Wohnung ein persönliches Aussehen zu verpassen. Aber das ist etwa so, als würdeste ’ne einzelne Bierkiste in einem riesigen Bierkistenstapel mit ’ner Schleife dekorieren. Es macht bloß darauf aufmerksam, wie gleich alles aussieht.«
Er rümpfte die Nase. »Und am Ende stinken die Buden alle nach verrottetem Müll und gekochtem Kohl.«
»Die Gegend hier sieht vollkommen verlassen aus«, stellte Rufus fest. »Als vorübergehende Operationsbasis perfekt geeignet für unsere transatlantischen Kidnapperfreunde. Ich frage mich, wie sie davon Wind bekommen haben.«
»Letztes Mal, als ich hier war«, begann Matty, »hab’ ich ’n Gerücht gehört, dass die Stadtverwaltung mal versucht hat, die Leute aus solchen Mietshäusern rauszukriegen. Anscheinend wollten sie das Land verkaufen, damit Fabriken oder schicke Villen oder so was drauf gebaut werden können. Die Leute, mit denen ich geredet habe, haben erzählt, die von der Stadt hätten Gerüchte gestreut, dass in einem der Mietblöcke irgend so ’ne Krankheit wie Tuberkulose oder die Pest ausgebrochen ist. Und dass sie alle darin ins Armenhaus verfrachten würden, um dann das Gebäude abzureißen und die Fläche neu zu bebauen. Und so ’ne Menge Kohle zu machen.« Seine Stimme senkte sich zu einem Flüstern. »Hab’ auch gehört, dass sie manchmal, wenn’s keine Plätze mehr im Armenhaus gab, die engen Durchgänge zu den Mietskasernen an bestimmten Stellen zugemauert haben, so dass die Leute nicht mehr herauskamen und einfach verhungert sind. Aber das glaub’ ich eigentlich nicht.«
»Das Problem ist nur«, sagte Rufus nachdenklich, »dass wir keine Ahnung haben, wo wir uns befinden. Und es offenbar keine Möglichkeit gibt, von hier wegzukommen oder jemanden um Hilfe zu bitten.«
Sherlock schaute sich um. Er hatte die Karte noch in der Tasche, aber sie war jetzt nicht von Nutzen. »Ich glaube, dass man uns von irgendwo da vorne von dem Pferdekarren ins Gebäude verfrachtet hat«, sagte er und wies auf einen Durchgang zwischen zwei Häuserblöcken. »Wir sind nicht um irgendwelche Ecken gebogen, und das ist die einzige gerade Route.«
»Der Karren wird mittlerweile weg sein«, merkte Matty mit finsterer Miene an. »Den hat sich bestimmt der Kerl unter den Nagel gerissen, der die Fragen gestellt hat.«
Rufus schüttelte den Kopf. »Der hatte seine eigene Kutsche. Darin hat er mich auch hierher gebracht. Nur er und ein Kutscher. Und der ist an der Kutsche zurückgeblieben.«
»Da die beiden Männer, die uns aus dem Park entführt haben, immer noch im Gebäude sind«, überlegte Sherlock, »sollte der Karren also noch da sein.«
Die drei guckten sich einen Moment lang an. Dann eilten sie hastig auf den Durchgang zu, auf den Sherlock gewiesen hatte. Der Gang führte auf eine schmutzige Straße hinaus, die sich in der Ferne veror. Auf der anderen Seite der Straße befand sich ein Streifen verwahrlosten Brachlandes, auf dem eine Handvoll knochiger, hohläugiger Pferde ein paar Gräser und Disteln abgraste. Bei dem Anblick kam Sherlock unwillkürlich Amyus Crowes Cottage in Farnham als Gegensatz in den Sinn: ein wunderschönes, uriges Fleckchen inmitten von saftigen Feldern, auf denen Virginias wohlbehütetes Pferd glücklich und zufrieden graste. Hier jedoch schien es sich samt und sonders um die düstere Umkehrung jenes vertrauten Ortes zu handeln: die Reihen identisch aussehender, gefängnisartiger Häuserblöcke, unmittelbar neben Streifen öden Brachlandes gelegen, auf denen man die armen Geschöpfe einfach ihrem Schicksal überlassen hatte.
Plötzlich nahm Sherlock eine Bewegung in einem
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