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Zähl nicht die Stunden

Titel: Zähl nicht die Stunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joy Fielding
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ein klein wenig länger
    durchhalten.«
    »Schläfst du mit ihr?«
    »Was?«
    »Schläfst du mit deiner Frau?«
    Jake sah sich hilflos um, während ein plötzliches Pochen in seinen Schläfen eine Kopfschmerzattacke ankündigte. Dies war noch schlimmer als die Auseinandersetzung in dem Restaurant oder der Termin mit
    Frank. »Ich kann sie nicht verlassen, Honey. Das weißt du.«
    »Das habe ich dich nicht gefragt , Jason.«
    »Ich weiß.«
    Jake wartete, dass Honey die Frage erneut stellte, doch das tat sie nicht. Stattdessen setzte sie ihr schiefes Grinsen auf, wischte sich die Tränen aus den Augen und steckte ihre Bluse wieder in ihre Jeans. Dann straffte sie die Schultern , atmete tief durch und ging zur Tür.
    »Honey –« , rief er ihr nach. Doch sie war schon verschwunden.
    26

    Mattie saß am Küchentisch, vor sich ein aufgeschlagenes Französisch-
    Lehrbuch, und starrte durch die Glasschiebetür in den Garten. Als ihr Blick auf die beiden Uhren auf der anderen Seite des Zimmers fiel,
    bemerkte sie, dass sie schon mehr als eine halbe Stunde so dagesessen hatte. Es war erstaunlich, wie viel Zeit sie damit verbringen konnte , absolut nichts zu tun – sich nicht zu bewegen, nicht zu sprechen, kaum zu atmen. So schlimm war es gar nicht, entschied sie und versuchte sich vorzustellen, wie es sein würde, wenn diese Unbeweglichkeit nicht mehr freiwillig sein würde, wenn sie gezwungen sein würde, Stunden, Tage, Wochen, vielleicht sogar Jahre so zu verbringen, unbeweglich, unfähig zu sprechen, kaum in der Lage zu atmen. »O Gott«, seufzte sie, als sie spürte, wie sich die Panik in ihrer Brust breit machte. Das würde sie nie zulassen.
    Doch es blieb eine unausweichliche Tatsache , dass sie sich jeden Tag schwächer fühlte , als hätten ihre Muskeln ein kleines Leck wie Reifen , in die sich winzige Nägel gebohrt hatten. Jeden Tag verlor sie auf ihrem Weg ein bisschen mehr Energie. Beim Gehen zog sie die Beine nach, als würde sie schwere Stahlträger schleppen. Und was ihre Hände betraf,
    hatte Mattie manchmal das Gefühl, dass ihr sogar die Kraft fehlte, sie auch nur zur Faust zu ballen. Bisweilen hatte sie Schluck- und
    Atembeschwerden. Immer häufiger glitten Stifte aus ihren Händen, die nicht mehr so wollten wie sie, Knöpfe blieben offen, Sätze unbeendet, Mahlzeiten unangerührt.
    Sie versuchte , optimistisch zu bleiben, indem sie sich an die jüngsten medizinischen Wunder erinnerte. Mittels genetischer Manipulation war es einem Wissenschaftler in Montreal gelungen, das Fortschreiten der Amyotrophen Lateralsklerose bei Labormäusen um 65 Prozent zu
    verlangsamen. Nachdem man das Gen isoliert hatte, versuchten
    Mediziner jetzt, Medikamente zu entwickeln, die dieses Gen aktivieren konnten, damit es mehr von dem Protein produzierte , das man brauchte , um das Fortschreiten der Krankheit zu hemmen. Doch Mattie wusste,
    dass es, egal wie schnell die Wissenschaftler auch arbeiteten, zu langsam sein würde, zumindest für sie. »Lasst mir nur noch Paris«, sagte sie leise und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Lehrbuch auf dem Tisch
    zu.
    Wie würde sie in Paris zurechtkommen?, fragte sie sich, als die Seiten durch ihre Finger glitten, bis sie sich auf Seite eins wiederfand. Wie sollte sie die charmanten Kopfsteinpflasterstraßen im Quartier Latin
    bewältigen? Wie die lange Treppe am Montmartre? Wie viel Kraft würde ihr bleiben für die großartigen Schätze des Louvre, des Grand Palais und des Quai d’Orsay? Würde der Zeitunterschied sie beeinträchtigen?
    Würde sie unter Jetlag leiden? Und wie würde sie den langen Flug
    überstehen? Lisa hatte sie bereits gewarnt, dass ihr der schwankende Sauerstofflevel im Flugzeug größere Unpässlichkeiten bereiten könnte.
    Würde sie damit umgehen können?
    Es würde schon gehen, hatte Mattie sich beruhigt. Jake hatte ihr einen Stock gekauft, und sie hatte eingewilligt , auf den Flughäfen in Chicago und Paris einen Rollstuhl zu benutzen. Sie hatte Schlaftabletten, Riluzol und ihre treue Flasche Morphium. Wenn sie müde wurde, würde sie sich ausruhen. Sie würde nicht zu stolz sein zu sagen, wenn es ihr zu viel wurde. Vielleicht würde sie sich auch eines dieser motorisierten
    Dreiräder mieten, von denen Lisa erzählt hatte, und damit durch die Straßen von Parisflitzen.
    Das Telefon klingelte.
    Mattie überlegte , ob sie warten sollte, bis der Anrufbeantworter ansprang , beschloss jedoch , lieber selbst dranzugehen für den Fall, dass es Kim oder Jake war.

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