Zähl nicht die Stunden
Vorträge, auf die er sich freuen konnte.
Und worauf konnte Mattie sich freuen? Ein Leben im Rollstuhl mit
Ernährungsschläuchen und langsamer Strangulation.
Worauf wartete sie noch? Konnte sie sich wirklich auf ihre Mutter
verlassen, wenn es darauf ankam, ihrem Leiden ein Ende zu setzen?
Vielleicht war der richtige Zeitpunkt genau jetzt. Für den Fall, dass Kim vor Jake nach Hause kam, würde sie eine Notiz hinterlassen , dass sie sich hingelegt hatte und nicht gestört werden wollte. Für Jake würde sie keinen Abschiedsbrief hinterlassen. Wozu? The time f or hesitating ’ s through, summte Mattie und bewegte sich langsam zur Treppe. Come on, baby, light my fire.
Light my fire. Light my fire. Light my fire.
Mattie summte immer noch , als sie vor dem Medizinschrank im Badezimmer stand , summte weiter , als sie das kleine Fläschchen Morphium in ihre zitternden Hände nahm. Sie füllte ein Glas mit
Wasser , schüttete alle Tabletten aus dem Fläschchen in ihre offene Hand , zählte zwanzig Stück ab und schob sie auf einmal in den Mund.
»Guten Tag , meine Herren, Miss Fontana«, sagte Jake und nickte den drei jungen Männern, ihren Vätern und Anwälten zu, die um den
imposanten langen Konferenztisch saßen, der das Vorstandszimmer
beherrschte. Auf beiden Seiten des Tisches standen zwölf rostfarbene Ledersessel mit hoher Rückenlehne. Jake musterte die auf der einen Seite des Tisches Sitzenden: Vergewaltiger, Vater, Anwalt , zählte er still für sich auf. Und auf der anderen Seite wieder Anwalt , Vater , Vergewaltiger.
Darin lag eine gewisse Symmetrie, dachte Jake und bemerkte, dass sich lediglich die Macleans ein wenig abgesondert hatten. Maclean junior saß allein am Ende des langen Tisches, während sein Vater vor der
beeindruckenden Fensterfront mit Blick auf die Michigan Avenue stand.
Es war ein wunderschöner Tag – sonnig und klar. Zu schön, um ihn in
geschlossenen Räumen zu vergeuden , dachte Jake rastlos und fragte sich , wie das Wetter in Paris war. Er nahm am Ende des Tisches Platz und
machte Thomas Maclean ein Zeichen , sich ebenfalls zu setzen.
»Sie kommen zu spät« , sagte Maclean senior, ohne die Einladung anzunehmen. »Tut mir Leid. Ich hatte einen unerwarteten Anruf. Es ließ sich nicht vermeiden.« Jake zwang sich zu einem Lächeln. Warum
entschuldigte er sich? Er schuldete diesem Mann überhaupt keine
Erklärung. Er war schließlich hier, oder nicht? Reichte das nicht? »Habe ich irgendwas verpasst?«
»Die Party fängt immer erst richtig an, wenn Sie da sind, Jake«, sagte Angela Fontana. Sie war eine makellos gekleidete Frau mit dunklen, zu einem Dutt hochgesteckten Haaren und einem breiten Mund, der sich
selbst im Ruhezustand quer über ihr schmales Gesicht zu strecken
schien. Jake schätzte sie auf Ende vierzig, genauso alt wie Keith Peacock, den anderen anwesenden Anwalt. Seinen schillernden Nachnamen
Lügen strafend, war Keith Peacock ein ebenso unscheinbarer wie
humorloser Kollege, obwohl er permanent zu lächeln schien. Beide
Anwälte waren von großen Kanzleien und genossen einen
herausragenden Ruf. Normalerweise hätte Jake es interessiert oder sogar gefreut, mit ihnen zusammenzuarbeiten, doch heute löste ihre
Anwesenheit nur eine milde Verärgerung aus. Wie konnten drei der
besten juristischen Köpfe der Stadt Sprachrohr für so unreife und
verabscheuenswerte junge Männer sein?
Jake lenkte seine Aufmerksamkeit von den Anwälten auf ihre
Mandanten. Mike Hanson war ein gut aussehender Junge, genauso groß
und schlank wie sein Anwalt , obwohl seine Miene im Gegensatz zu der von Keith Peacock zu einem mürrischen Dauerschmollen erstarrt schien.
Sein dunkelbraunes Haar war ordentlich geschnitten , und unter seiner rot-weißen Lederjacke trug er ein weißes Hemd und Krawatte. Der
Farbton der Jacke biss sich mit dem der Stühle, dachte Jake, und sein Blick wanderte weiter zu Neu Pilcher, der kleiner und stämmiger war, obwohl auch er unter angenehmeren Umständen möglicherweise als
attraktiv durchgegangen wäre. Er kaute nervös an den Nägeln und
blickte immer zu Eddy Maclean, der träge ins Leere starrte, während er gelangweilt mit einer unangezündeten Zigarette spielte. »Leg das
verdammte Ding weg«, befahl Thomas Maclean seinem Sohn, und Jake
beobachtete, wie der Junge die Zigarette beiläufig in der Hand
zerbröselte, bis der Tabak durch seine Finger rieselte und auf dem
Eichentisch liegen blieb wie getrockneter Dung.
»Das ist Neu
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