Zähl nicht die Stunden
In letzter Zeit hatte Mattie ihre Tochter kaum gesehen – wenn Kim nicht in der Schule war, war sie bei der Großmutter und verhätschelte ihren neuen Welpen, bis er alt genug war, von seiner Mutter getrennt zu werden. Und was Jake betraf , so wusste Mattie, dass ihm in den letzten Wochen irgendwas Sorgen bereitet hatte. Sie fragte sich, ob und, wenn ja, wann er ihr erzählen würde, was es war. »Ich sollte lieber drangehen« , sagte Mattie laut , kämpfte sich auf die Beine und schleppte sich langsam zum Telefon. »Hallo?«
»Mrs. Hart?«
»Am Apparat.« Die Frauenstimme am anderen Ende klang
unbekannt.
»Hier ist Ruth Kertzer aus Tony Grahams Büro bei Richardson,
Buckley und Lang.«
Mattie hatte alle Mühe, sich dieses Sperrfeuer von Namen in der
richtigen Reihenfolge zu merken. Warum sollte jemand aus der Firma
ihres Mannes bei ihr anrufen? War Jake irgendwas zugestoßen?
»Mr. Graham ist verantwortlich für die Koordination der privaten
Dinnerpartys, zu denen einige der Partner während des internationalen Juristenkongresses in Chicago im nächsten Monat einladen, und wollte mit Ihnen ein paar mögliche Termine besprechen.«
»Verzeihung?« Wovon um alles in der Welt redete die Frau? »Ich
fürchte, ich kann Ihnen nicht folgen.«
»Mr. Graham dachte, es wäre eine nette Geste, wenn wir statt zu
größeren, förmlichen Empfängen in Restaurants oder Hotels zu einer
Reihe von kleineren Abendessen mit etwa zwölf bis vierzehn Personen in privater Umgebung einladen würden. Der Name Ihres Mannes steht
auf der Liste der Gastgeber. Natürlich kommt die Kanzlei für sämtliche Unkosten auf. Hat Ihr Mann möglicherweise vergessen, das zu
erwähnen?«
Offenbar, dachte Mattie und fragte sich, ob es das war, was Jake
bekümmert hatte. Wie würde sie mit zwölf bis vierzehn Fremden in
ihrem Haus zurechtkommen? Nun ja, solange sie nicht kochen musste,
würde sie es schon irgendwie hinkriegen. Sie fühlte sich offen gestanden sogar ein wenig geschmeichelt. In der Vergangenheit hatte Jake stets davor zurückgeschreckt, sie in offizielle Kanzlei-Termine einzubinden.
Dass er sie für stark genug hielt, zu diesem Zeitpunkt ein derartiges Ereignis zu bewältigen, machte sie glücklich, ja, regelrecht optimistisch.
»Wann genau soll das Ganze denn stattfinden?«
»Der Kongress geht vom 14. bis zum 20. April. Die betreffenden
Abende sind –«
»Das ist unmöglich. Wir sind vom 10. bis zum 21. April nicht da.«
»Sie sind nicht da? Aber Mr. Hart leitet eines der Seminare.«
»Was?« Mattie biss sich auf die Unterlippe. »Nein, das ist unmöglich.«
»Ich habe neulich noch mit ihm gesprochen«, sagte Ruth Kertzer.
»Ahm, hören Sie, es hat da offenbar irgendein Missverständnis
gegeben. Kann ich Sie deswegen zurückrufen?«
»Selbstverständlich.«
Mattie legte auf, ohne sich zu verabschieden. Was ging hier vor? Jake hatte nichts von einem Kongress im April gesagt, und sie hatten ihre Reise nach Paris monatelang geplant. Das Ganze musste ein Irrtum sein.
Reg dich nicht auf, ermahnte sie sich, als sie spürte, wie ihr Herz schneller zu schlagen begann. Die dumme Frau hatte offensichtlich ihre Termine durcheinander gebracht. Der Kongress war wahrscheinlich erst im Mai oder möglicherweise sogar erst im April nächsten Jahres. Wurden diese Veranstaltungen nicht üblicherweise Jahre im Voraus geplant? Nie würde Jake sein Versprechen brechen, sie nach Paris zu begleiten, vor allem jetzt nicht, wo die Reise nur noch wenige Wochen entfernt war.
Nein, das würde Jake ihr niemals antun.
Der alte Jake vielleicht. Der Jake, der kalt, distanziert und
zurückhaltend war, der seine Arbeit wichtiger fand als seine Familie, wichtiger als alles andere. Der Jake, der sich nichts dabei gedacht hätte, ihre Pläne in der letzten Minute abzusagen. Der alte Jake, der keinen Gedanken darauf verschwendet hätte, ob er ihre Gefühle verletzt oder ihr den Urlaub verdarb. Aber dieser Jake war vor Monaten ausgezogen.
Der Jake, der seinen Platz eingenommen hatte, war ein aufmerksamer , gütiger und sensibler Mann , der ihr zuhörte und sich ihr anvertraute, der mit ihr redete und lachte. Jake Hart war ein Mann geworden , dem Mattie ihre Gefühle anvertrauen konnte, ein Mann, auf den sie sich in Zeiten der Not verlassen konnte. Ein Mann, den sie lieben konnte.
Und ein Mann, dachte sie, der ihre Liebe vielleicht sogar erwidern
konnte.
»Das kann nicht sein«, sagte Mattie, nahm den Hörer ab und tippte
mit beiden
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