Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Zähl nicht die Stunden

Titel: Zähl nicht die Stunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joy Fielding
Vom Netzwerk:
aus Khaki-Hose, weißem T-Shirt und leichter Jacke getauscht. »Der Turm sollte ursprünglich kein dauerhaftes Wahrzeichen der Stadt
    werden, und lediglich seine potenzielle Nutzung als Antennenmast
    verhinderte seinen Abriss«, fuhr Mattie erstaunt fort. »Doch im Jahr 1910 wurde endgültig entschieden , ihn für die Nachwelt zu erhalten , und er zieht seither jedes Jahr mehr als vier Millionen Besucher an.«
    »Die offenbar alle ausgerechnet heute Nachmittag gekommen sind« , meinte Jake.
    Mattie lächelte. »Der Turm wiegt mehr als 7700 Tonnen und ist 320
    Meter hoch. Er besteht aus 15000 Stahlelementen, ein Neuanstrich
    erfordert 55 Tonnen Farbe. Er trägt den Spitznamen ›Treppe zur
    Unendlichkeit und schwankt auch bei starkem Wind nicht mehr als
    zwölf Zentimeter. Bisher haben sich insgesamt 370 Menschen von der
    obersten, 276 Meter hohen Plattform in den Tod gestürzt.«
    »Autsch.«
    »Er ist wunderschön, nicht wahr? Ich meine, eigentlich sollte es ein Klischee sein, aber das ist es nicht.«
    »Er ist wunderschön« , stimmte er ihr zu.
    Mattie starrte zunehmend neidisch auf die scheinbar endlose Schlange vor den langsamen Fahrstühlen. Sie und Jake hatten geschätzt , dass sie mindestens eine Stunde anstehen müssten. So lange konnte sie auf gar keinen Fall stehen, und die Hunderte von Stufen zu besteigen kam
    natürlich erst recht nicht in Frage, sodass sie und Jake sich auf eine leere Bank zurückgezogen hatten und darauf warteten, dass der Ansturm
    nachließ. Danach sah es im Moment noch überhaupt nicht aus, doch
    Mattie war glücklich, einfach neben Jake zu sitzen und zu warten. Es ging doch nichts darüber, Menschen zu beobachten, egal wo man war, dachte sie, als ihre Aufmerksamkeit von einem Teenager-Pärchen m Beschlag
    genommen wurde, das sich in seliger Weltvergessenheit unter einem
    prachtvollen Kirschbaum küsste. Neben einem kleinen Kiosk stand ein weiteres Paar in leidenschaftlicher Umarmung, ein weiteres schlenderte über den dicht bevölkerten Weg vor dem Turm und hatte wie das Paar
    auf der berühmten Fotografie von Robert Doisneau nur Augen
    füreinander. Die Stadt der Liebe, dachte Mattie und sah Jake an.
    »Hier steht, wenn man den Turm abends besichtigt , kann man die langen Schlangen vor den Aufzügen vermeiden« , las Jake aus einem Prospekt vor , den er mitgenommen hatte.
    »Wirklich?«
    »Angeblich ist es abends sogar romantischer«, sagte Jake, »weil alles erleuchtet ist.«
    »Könnten wir das machen – später wiederkommen?«
    »Wie war’s, wenn wir nach unserer Bootstour auf der Seine
    zurückkommen?«
    Mattie brach in Tränen aus.
    »Was ist los, Mattie? Wenn du zu müde bist, können wir auch einfach
    hier warten. Ich wollte dich nicht drängen. Wir können die Bootstour auch an einem anderen Abend machen.«
    »Ich bin nicht müde«, versicherte sie ihm unter Tränen. »Ich bin
    einfach so glücklich. Mein Gott, wie kitschig.«
    Jake tupfte ihr mit einem Finger sanft die Tränen ab.
    »Was ist mit dir? Du musst doch völlig erschöpft sein. Ich habe
    wenigstens im Hotel ein paar Stunden geschlafen.« Mattie wusste, dass Jake nicht eine Minute die Augen zugemacht hatte.
    »Ich habe im Flugzeug geschlafen« , erinnerte er sie. »Was ist los?
    Glaubst du , ich mache schlapp?« Jake sprang auf und half Mattie auf die Beine. »Nur einen Moment«, sagte er und drückte einem verdutzten
    japanischen Touristen seine Kamera in die Hand. »Könnten Sie ein Foto machen? Une photo? Drücken Sie einfach da«, fügte er hinzu und eilte an Matties Seite, um vor dem Hintergrund des gewaltigen Turms , einen Arm schützend um ihre Schulter gelegt , in die Kamera zu lächeln. »Noch eins«, wies er den Touristen an und machte ihm mit den Händen
    Zeichen , den Fotoapparat hochkam zu halten. »Super. Vielen Dank. Das wird bestimmt ein super Bild« , sagte er, nachdem er die Kamera wieder in Empfang genommen hatte und zu Mattie zurückgekehrt war. »Los
    geht’s!«
    Mattie hakte sich bei Jake unter und ließ sich von ihm langsam durch die Menge führen. Sie sah eine Frau mit einem breitkrempigen beigen
    Filzhut und wollte ihr schon zurufen , doch bei näherem Hinsehen erkannte sie , dass die Frau Cynthia Broome überhaupt nicht ähnelte.
    Broome. Genau , das war ihr Name. Aus Chicago. »Also los«, sagte Mattie.
    28

    Der Albtraum begann wie immer.
    Jakes Mutter tanzte durch das von beige-braunen Farbtönen
    beherrschte Wohnzimmer seiner Kindheit , warf ihr blondes Haar hin und her , hob

Weitere Kostenlose Bücher