Zähl nicht die Stunden
rang, als ob sie sich an einem Stück Steak verschluckt hätte. Das Gesicht rot, die Augen panisch aufgerissen,
versuchte sie, die Luft in ihren offenen Handflächen zu sammeln und den Sauerstoff förmlich in ihre Lunge zu pressen. Schließlich brach sie, am ganzen Körper schweißnass, hustend und weinend neben ihm
zusammen. Jake wischte ihre Stirn mit einem weichen weißen Handtuch
ab und drückte sie dann fest an seine Brust, als wollte er ihre Atmung durch seine regulieren oder wenn nötig für sie beide atmen.
Danach hatte Mattie eingewilligt, das Morphium zu nehmen, und war
wenig später in Jakes Armen zusammengerollt eingeschlummert.
Sie hatte stark abgenommen, erkannte Jake schaudernd, als er auf ihre zarten Arme sah, die auf dem bauschigen weißen Überbett lagen.
Mindestens vier Kilo, vielleicht sogar mehr. Sie versuchte es zu
verbergen, indem sie tagsüber weite, locker fallende Kleidung und nachts formlose Nachthemden trug. Doch als sie jetzt hier im durch das Fenster schimmernden Pariser Mondlicht neben ihm lag, ließ sich ihr
Gewichtsverlust weder verharmlosen noch ignorieren. Sie schien nur
noch aus Haut und Knochen zu bestehen. Sogar ihr Haar wurde dünner.
Jake strich einige Strähnen von Matties ausgeprägten Wangenknochen , und seine Finger verharrten auf ihrer blassen Haut, als würden sie sich weigern , wieder von ihr zu lassen. Sie schwindet vor meinen Augen dahin, dachte er, beugte sich über sie und strich mit den Lippen sanft wie eine Feder über ihre Stirn. »Du bist so wunderschön«, flüsterte er, mit einem Mal von einer so übermächtigen Trauer übermannt, dass ihm das
Atmen wehtat. Und er fragte sich, ob Mattie, wenn sie nach Luft rang, ähnliche Schmerzen fühlte.
»Ich liebe dich«, hatte sie ihm an jenem Tag erklärt , als er früher nach Hause gekommen war , um ihr zu berichten, dass sie doch wie geplant nach Paris fahren würden. Sie hatte die Worte nicht als Aufforderung gemeint, hatte nicht ge- oder erwartet, dass er sie erwiderte. Und das hatte er auch nicht getan. Damals nicht. Und seither nicht. Wie sollte er?, fragte er sich, seiner Stimme misstrauend. Sich selbst misstrauend. Und solagen ihm diese Worte provozierend auf der Zunge , wenn sie zusammen waren , umspielten seine Lippen und suchten Zuflucht in seinem geschlossenen Mund. Welche Ironie des Schicksals, dachte er, als er wieder unter die Decke krabbelte und sich an Mattie schmiegte, dass er sich, just in dem Moment, in dem ihr Leben endete , kein Leben mehr ohne sie vorstellen konnte.
Mattie rührte sich im Schlaf und kuschelte sich in der Löffelchen-
Stellung enger an ihn , als wären sie zwei Teile desselben Puzzles , was Jake ein ebenso zutreffendes Bild ihrer Beziehung schien wie irgendein anderes. Er küsste ihre Schulter, atmete einen Hauch ihres
Fliederparfüms ein und hielt den Duft absichtlich so lange wie möglich in seiner Lunge, als könnte er sie so auf irgendeine Weise schützen.
Dann atmete er widerwillig aus, seine Lider wurden schwer, und er ließ den Kopf auf sein Kissen sinken.
Er spürte, dass sein Albtraum lauerte und darauf wartete, sich
stockend wieder in Bewegung zu setzen wie ein Video, das er angehalten hatte und jetzt ruckartig vor und zurück spulte, um die richtige Stelle zu finden, das Gesicht seines Vaters, die Faust seiner Mutter, der
jämmerliche Haufen von Büchern und Spielsachen im Kinderzimmer ,
seine Mutter , die das Zimmer durchwühlte und bösartige Drohungen gegen die geschlossene Kleiderschranktür ausstieß. »Ich kann so nicht mehr länger leben« , brüllte sie. »Hört ihr mich. Ich kann so nicht mehr länger leben. Keiner liebt mich. Niemanden kümmert es , ob ich lebe oder tot bin.«
Jake war noch wach, als er Nicholas wimmern hörte und sah, wie
Luke sich an den Knauf der Kleiderschranktür klammerte. Zitternd löste er seinen Arm von Mattie und hielt sich in Erwartung des widerlichen Geräuschs vom Aufprall seines Modellflugzeugs die Ohren zu.
»Verflucht«, schrie seine Mutter und trat gegen die Tür. »Verflucht alle miteinander, ihre verwöhnten kleinen Gören. Wisst ihr, was ich machen werde? Wisst ihr, was ich jetzt mache? Ich gehe in die Küche und drehe das Gas an, und morgen früh, wenn euer Vater aus dem Bett seiner
Freundin nach Hause kommt, wird er uns alle tot in unseren Betten
vorfinden.«
»Nein!«, schrie Nicholas und hielt schützend die Hände über den
Kopf.
»Ich tue euch einen Gefallen« , schrie Eva Hart , stolperte
Weitere Kostenlose Bücher