Zähl nicht die Stunden
ihren weiten Rock mit Blumenmuster, um für Momente provozierend nackte Schenkel aufblitzen zu lassen , während sie versuchte, ihren Mann hinter seiner Zeitung hervorzulocken. »Du sagst mir nie, dass ich schön bin«, klagte sie. »Wie kommt es, dass du mir nie sagst, dass ich schön bin?«
»Das sage ich dir doch ständig«, kam die altbekannte Antwort. »Du
hörst bloß nicht zu.«
»Warum gehen wir nicht irgendwohin? Lass uns tanzen gehen. Hast
du mich gehört? Ich sagte, lass uns tanzen gehen.«
»Du hast getrunken.«
»Ich habe nicht getrunken.«
»Ich kann deine Fahne bis hierhin riechen.«
Jake stöhnte im Schlaf und versuchte , den Klang ihrer Stimmen auszublenden , wie er es immer tat, auch wenn er schon ‘wusste, dass derlei Anstrengungen nutzlos waren.
»Wie war’s mit einem Film? Wir waren seit Urzeiten nicht mehr im
Kino.«
»Ruf eine deiner Freundinnen an, wenn du ins Kino gehen willst.«
»Du bist derjenige mit den Freundinnen« , hörte Jake seine Mutter fauchen.
»Nicht so laut. Du weckst noch die Jungen auf.«
Ja, wach auf, flüsterte eine dünne Stimme in Jakes Kopf. Wach auf. Du bist kein Kind mehr. Du musst dir das nicht anhören. Wach auf. Du bist nicht im Haus deiner Eltern. Du bist auf der anderen Seite der Erdkugel. Und du bist schon erwachsen. Hier kann sie dir nichts tun. Wach auf. Wach auf.
Doch noch während Jake sich selbst ermahnte, die Stimmen in
seinem Kopf zu ignorieren, wurde seine Aufmerksamkeit abgelenkt von
dem Bild dreier kleiner Jungen in Schlafanzügen, die vor der Tür seines Zimmers eine nutzlose Barriere aus Büchern und Spielzeugen
errichteten.
»Meinst du, ich weiß nichts von deinen kleinen Freundinnen? Meinst
du, ich weiß nicht, wohin du jeden Abend gehst, du mieser Dreckskerl ?«
Eva Hart schrie jetzt, steigerte sich in Volumen und Einsatz, und ihre kräftige Stimme drang durch feste Wände, überquerte Ozeane und
überspannte Jahrzehnte.
Jake beobachtete, wie seine Mutter ihre Faust durch die Zeitung
rammte, und spürte ihre volle Wucht in seinem eigenen Magen. Er
krümmte sich im Bett und hielt sich den Bauch, als wäre er von einem Schlag kalt erwischt worden.
Sein Vater sprang von seinem Stuhl auf und warf die Zeitung zu
Boden. »Du bist verrückt« , schrie er auf dem Weg zur Tür. »Du bist vollkommen verrückt. Man sollte dich in eine Anstalt stecken.«
Die drei kleinen Jungen rannten zum Kleiderschrank , verriegelten die Tür hinter sich und drängten sich an die Rückwand des beengten
Raumes. Luke zitterte in Jakes Armen, Nicholas saß für sich und starrte vor sich hin.
Jake beobachtete, wie seine Mutter Anstalten machte, sich auf ihren Vater zu stürzen, als wollte sie ihn reiten wie einen bockenden Gaul.
Doch sie verlor das Gleichgewicht und fiel gegen die schmale Stehlampe neben der Haustür, die hin und her pendelte wie ein Metronom, das die Sekunden bis zum wütenden Abgang des Vaters abzuzählen schien. »Ich
bin verrückt, bei einer Verrückten zu bleiben.«
»Ja? Warum gehst du dann nicht, du elender Waschlappen von einem
Mann.« Geh nicht , rief Jake stumm. Bitte , Daddy , verlass uns nicht. Du kannst uns nicht mit ihr alleine lassen. Du weißt nicht , was sie tun wird.
»Alles wird gut« , flüsterte er seinen Brüdern zu und erinnerte sie an das gebunkerte Wasser und den Erste-Hilfe-Kasten. »Solange wir keinen
Mucks machen, sind wir sicher.«
Du musst dir das nicht ansehen, flüsterte eine leise Stimme in Jakes Ohr.
Das war vielleicht irgendwann einmal deine Wirklichkeit, aber das ist es jetzt nicht mehr. Jetzt ist es nur noch ein böser Traum. Wach auf. Du musst nicht mehr hier sein.
Doch es war bereits zu spät. Seine Mutter hämmerte schon mit den
Fäusten gegen die Tür von Jakes Kleiderschrank und verlangte Zutritt, Treue, ja seine leibhaftige Seele. Er beobachtete, wie sie in trunkener Wut durch das Zimmer stolperte, gegen seine Schuhe trat, Schubladen
aufriss und seine Kleider auf den Boden schüttete, wie sie sein
Modellflugzeug nahm, das er wochenlang zusammengebaut hatte und in
der nächsten Woche in der Schule präsentieren wollte.
Wach auf, bevor sie es in tausend Stücke zerschlagen kann, riet ihm die leise Stimme, während unsichtbare Hände seine Schultern fassten und
versuchten, ihn wach zu rütteln, als würde er neben sich stehen. Wach auf. Wach auf.
Etliche Sekunden stand Jake mit einem Fuß diesseits, mit dem
anderen jenseits der Grenze seines Traums. »Wach auf«, wiederholte
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