Zähl nicht die Stunden
hoffnungsvoll. »Weit kann sie nicht sein.«
Doch Jake war schon aus der Tür , rannte , jeweils eine Stufe auslassend, die Treppe hinunter und stürzte an den Tresen , wo Chloe Dorleac mit zwei deutschen Touristen über einen Stadtplan gebeugt
stand. »Haben Sie meine Frau gesehen?« , wollte Jake wissen. »Ma femme?« , versuchte er es , als Chloe Dorleac sich weigerte , seine Anwesenheit zur Kenntnis zu nehmen. »Verdammt noch mal«, brüllte er
und hämmerte auf den Tresen. »Das ist ein Notfall.«
»Ich weiß nicht, wo Ihre Frau ist«, sagte die Drachenfrau kühl, ohne den Blick von der Karte zu wenden.
»Haben Sie sie nicht hinausgehen sehen? Es kann höchstens zehn
Minuten her sein.«
»Ich kann Ihnen nicht helfen , Monsieur«, lautete die Antwort.
»Im Frühstücksraum ist sie nicht«, berichtete Honey, die in diesem Moment an seiner Seite auftauchte.
Jake sah sich panisch in der Hotelhalle um. Sein Gebaren hatte die Aufmerksamkeit einer Hand voll Touristen erregt, die herumstanden und darauf warteten, dass der Regen nachließ. »Hat irgendwer meine Frau gesehen?«, flehte er etliche ausdruckslose Augenpaare an. »Spricht
irgendjemand Englisch?« Er hielt inne und blickte zur Straße. »Hat
irgendjemand sie gesehen? Groß , schlank, blond, schulterlange Haare.
»Sie ist leicht gehbehindert –«
»Ich habe sie gesehen«, ertönte aus einer Ecke der Lobby eine kleine Stimme hinter einer großen Topfpflanze.
Jake war sofort auf den Knien und versuchte, den widerwilligen
strubbeligen Jungen hinter der hoch aufragenden Pflanze
hervorzulocken. »Du hast sie gesehen?«
»Ich spiele mit meinem Bruder Verstecken«, sagte der Junge.
»Du hast meine Frau gesehen –«
»Sie geht komisch«, sagte der Junge und kicherte.
»Wohin ist sie gegangen?«
Der Junge zuckte die Achseln. »Ich muss mich verstecken, bevor
mein Bruder mich findet.«
»Du hast nicht gesehen , wohin sie gegangen ist?«
»Sie ist in ein Taxi gestiegen« , erklärte der Junge. »Ich weiß nicht , wo das hingefahren ist.«
»Ein Taxi?« , wiederholte Jake. Wohin zum Teufel konnte sie gefahren sein? Vor allem bei dem strömenden Regen. Als seine Mutter auftauchte , lief der Junge davon und verschwand um eine Ecke.
»Lance , wo bist du?« , rief die besorgte Frau. »Verdammt. Ich habe genug von diesem Unsinn. Das Spiel ist vorbei.«
»Meinst du, wir sollten die Polizei anrufen?«, hörte Jake Honey fragen, doch er ließ sie einfach stehen und rannte wieder in den zweiten Stock, wo er erleichtert feststellte, dass seine Zimmertür noch offen stand. Er stürzte zu dem Nachttisch auf Matties Seite, riss die Schublade auf, fand seinen Pass und sein Flugticket und wusste schon, dass Matties fehlten, bevor er nachgesehen hatte.
»O Gott«, sagte er, sank erschöpft neben dem Bett zusammen und
vergrub das Gesicht in den Händen. Sein Atem ging stoßweise, und er
zitterte am ganzen Körper. »Sie ist weg«, sagte er, als Honey das Zimmer betrat. »Sie hat den Pass und ihr Ticket genommen und ist jetzt
wahrscheinlich schon auf dem halben Weg zum Flughafen.«
»Dann schlage ich vor« , sagte Honey leise und unverblümt , »dass du deinen Arsch hoch kriegst und dich auf die Socken machst.«
Der Flughafen Charles de Gaulle ist ein riesiger Komplex knapp
zwanzig Kilometer außerhalb von Paris. Er hat zwei Hauptterminals, die etliche Kilometer voneinander entfernt liegen , und besteht aus zwei miteinander verbundenen Gebäuden in vier Abteilungen. Darüber
hinaus gibt es ein weiteres Terminal für Charterflüge. Alles in allem wird der Flughafen von mindestens vierzig Fluggesellschaften und sechzehn Chartergesellschaften angeflogen. Jake hatte schon genug Probleme gehabt , sich zurechtzufinden , als er mit Mattie gelandet war. Wie würde Mattie alleine klarkommen? , fragte er sich jetzt und drängte den Taxifahrer ungeachtet der verstopften Pariser Straßen zur Eile. Trotz der relativen Stadtnähe des Flughafens riet man Reisenden eine ganze Stunde Anfahrtszeit einzurechnen, und jetzt begriff Jake, warum, vor allem unter erschwerten Verkehrsverhältnissen wie diesen. »Meinen Sie, Sie könnten vielleicht ein wenig schneller fahren?«, drängte Jake. »Plus vite«, sagte er, während der Taxifahrer synchron mit den Scheibenwischern seines
Gefährts den Kopf schüttelte. »Es ist sehr wichtig , dass ich so schnell wie möglich zum Flughafen komme.«
»Noch wichtiger , lebend dort ankommen« , erklärte der Fahrer ihm in holperigem
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