Zähl nicht die Stunden
wirklich eine gewesen war, trotz beinahe sechzehn Jahren Zusammenlebens und der Tochter, die aus ihr
hervorgegangen war, das Einzige in ihrem Leben, was ihr nicht Leid zu tun brauchte.
»Es tut mir wirklich Leid«, sagte Mattie noch einmal und brach
unversehens in Tränen aus.
»Mattie?« Roy Crawfords Blick flog peinlich berührt erst zur einen dann zur anderen Seite. Er presste die Lippen aufeinander, entspannte sie und presste sie erneut aufeinander, als er Mattie, die jetzt heftig zitterte, in die Arme nahm. »Was ist denn? Geht es Ihnen nicht gut?«
»Es tut mir so Leid«, stammelte Mattie zum dritten Mal, nicht fähig, irgendetwas anderes hervorzubringen. Was war nur los mit ihr? Zuerst das idiotische Gelächter im Gerichtssaal, und jetzt der Tränenausbruch auf der Treppe dieses ehrwürdigen Museums. Vielleicht war es eine
Umweltkrankheit, eine heimtückische Form von Bleivergiftung vielleicht.
Vielleicht war sie allergisch auf altehrwürdige Gebäude. Ganz gleich, was es war, sie hätte die tröstliche Geborgenheit von Roy Crawfords
Umarmung am liebsten nie wieder aufgegeben. Es war lange her. dass
jemand sie mit solcher Zärtlichkeit gehalten hatte. Selbst wenn sie und Jake miteinander schliefen, und ihre Umarmungen waren in all den
Jahren erstaunlich leidenschaftlich geblieben, fehlte gerade diese
Zärtlichkeit. Ihr wurde erst jetzt bewusst, wie sehr sie ihr gefehlt hatte.
Und wie viel ihr gefehlt hatte. »Es tut mir so Leid.«
Roy Crawford trat einen Schritt zurück, aber er ließ sie nicht los, seine kräftigen Hände lagen immer noch warm auf ihren Oberarmen. »Kann
ich etwas tun?«
Armer Kerl, dachte Mattie. Er hatte überhaupt nichts verbrochen,
aber er sah zutiefst schuldbewusst aus. Wahrscheinlich hatte er schon so oft Frauen zum Weinen gebracht, dass er es sich angewöhnt hatte,
automatisch die Schuld auf sich zu nehmen , auch wenn er völlig schuldlos war. Mattie fragte sich flüchtig , ob es allen Männern so erging , ob sie mit der ständigen Furcht vor der Macht weiblicher Tränen durchs Leben marschierten.
»Lassen Sie mir nur einen Moment Zeit. Es ist gleich wieder in
Ordnung.« Mattie sah Roy Crawford mit einem, wie sie hoffte ,
beruhigenden Lächeln an. Aber sie spürte , wie ihre Lippen zitterten , und schmeckte die salzigen Tränen hinter den zusammengebissenen Zähnen.
Roy Crawford sah alles andere als beruhigt aus. Eher zu Tode
erschrocken.
Wer konnte es ihm verübeln? Er war auf ein Stelldichein mit seiner
Kunstberaterin zur Besichtigung einer Fotoausstellung vorbereitet
gewesen , und in was war er stattdessen hineingeraten? Das Schlimmste , was es für einen Mann gab – eine hysterische Frau , die sich in aller Öffentlichkeit gehen ließ. Kein Wunder , dass Roy Crawford ein Gesicht machte , als wünschte er , er könnte im nächsten Mauseloch verschwinden.
Dennoch, die Bestürzung in Roy Crawfords Gesicht war nichts im
Vergleich zu dem Ausdruck reinen Entsetzens, mit dem Jake auf ihren Ausbruch während seines Schlussplädoyers reagiert hatte. Was er von ihr gedacht haben musste! Was er jetzt von ihr denken musste! Niemals
würde er ihr verzeihen, das war gewiss. Ihre Ehe war aus und vorbei, und sie hatte nicht in Anklagen und Vorwürfen geendet , sondern in Gelächter.
Mattie war aus dem Gerichtsgebäude gerannt und schreiend vor
Lachen die California Avenue zwischen der 25. und der 26. Straße
hinuntergelaufen , nicht die beste Gegend der Stadt , wie ihr bewusst wurde , als ihr ein Betrunkener entgegenkam , der bei ihrem Anblick hastig zur anderen Straßenseite hinübertorkelte. Sogar die Wermutbrüder möchten lieber nichts mit mir zu tun haben , hatte sie gedacht. Dann hatte sie hinter sich Schritte gehört und sich umgedreht, weil sie hoffte, Jake wäre ihr nachgelaufen , aber es waren nur zwei Schwarze mit dicken, bis über die Ohren heruntergezogenen Strickmützen, die in die andere Richtung blickten , als sie schnell an ihr vorbeigingen.
Ihr Wagen, ein weißer Intrepid, dem eine Wäsche gut getan hätte,
stand vor einer abgelaufenen Parkuhr zwei Straßen vom
Gerichtsgebäude entfernt. Mattie hatte in ihrer Handtasche nach den Schlüsseln gekramt , fand sie , ließ sie fallen, hob sie auf, ließ sie wieder fallen. Danach nahm sie sie fest in die Finger und versuchte, die
Wagentür aufzusperren. Sie versuchte es mehrmals ohne Erfolg. Der
Schlüssel drehte sich in ihren Fingern , aber die Tür blieb verschlossen.
»Ich hab wahrscheinlich
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