Zähl nicht die Stunden
jetzt tun werde. Sie alle warten darauf zu hören , was ich sagen werde.
»Ist die Verteidigung bereit, in ihrem Schlussplädoyer fortzufahren?«, fragte die Richterin.
Jake stand auf. »Ja, Euer Ehren.«
Jetzt oder nie, dachte Jake. Er holte einmal tief Atem und sah die Geschworenen an. Dann drehte er langsam den Kopf und richtete den
Blick direkt auf den Platz, an dem vor der Pause Mattie gesessen hatte.
»Sie haben soeben alle miterlebt, wie hier eine Frau plötzlich in lautes Gelächter ausgebrochen ist«, begann er und ging so direkt auf den
Zwischenfall ein, nicht aber auf die Identität der Frau. »Wir wissen nicht, warum die Frau gelacht hat. Es ist nicht wichtig, auch wenn es uns alle zweifellos in Unruhe versetzt hat.« Er lachte leise und bot allen im Saal die Möglichkeit , mit ihm zu lachen , um so einen Teil der noch vorhandenen Spannung zu lösen. Dann schnappte er sich die
Geschworenen , indem er sagte: »Aber gleichermaßen kann uns die Wahrheit in Unruhe versetzen , und die Wahrheit in diesem Fall ist , dass es für Douglas Bryant bei diesem Prozess um das nackte Leben geht.« Er machte eine Pause, um jeden einzelnen Geschworenen anzusehen, und
ließ es zu, dass Tränen der Wut ihm in die Augen schossen, weil er
wusste, dass die Geschworenen seine Wut auf Mattie für Mitgefühl mit dem Angeklagten halten würden. »Es geht in diesem Prozess um
Douglas Bryants Leben«, wiederholte er. »Und das ist weiß Gott nicht zum Lachen.«
Die Geschworenen antworteten mit einem tiefen Seufzen, wie es
manchmal unter einer wohlgesetzten zärtlichen Berührung entsteht. Ich habe es geschafft , dachte Jake , als er sah, dass mehrere der Frauen Tränen des Mitgefühls vergossen. Mattie hatte ihm, ohne es zu wollen, den größten Triumph seiner Karriere geschenkt. Er würde den
Freispruch bekommen , Riesenpublicity und das Angebot, in die Sozietät einzusteigen.
Und das alles schuldete er Mattie. Wie immer schuldete er alles seiner Frau.
4
Mattie stand auf der Treppe vor dem Art Institute of Chicago und ließ sich die kalte Brise ins Gesicht blasen. »Fester« , murmelte sie und bot dem Wind ihr Gesicht , als wollte sie ihn herausfordern, sie zu schlagen.
Komm, komm, wirf mich nieder. Schleudere mich zu Boden. Demütige
mich vor all diesen gut betuchten Kunstgönnern. Ich habe es verdient.
Zeit, den Lohn dafür zu kassieren, wie ich heute Morgen bei Gericht
meinen Mann blamiert habe. »Komm schon!«, flüsterte sie, während sie immer noch zu begreifen suchte, was geschehen war, »gib dein Bestes.«
»Mattie?«
Sie fuhr herum und verzog den Mund zu einem übertriebenen
Lächeln , als sie Roy Crawford sah , einen Mann mit dem verwitterten Gesicht eines Boxers und dem geschmeidigen Körper eines Tänzers, der sich ihr mit lachenden grauen Augen näherte. Er steuerte beim Gehen
mit den Schultern, stellte Mattie fest, die ihn beobachtete , als er selbstsicher auf sie zukam. Rechte Schulter , linke Schulter, rechte Schulter... Lässige schwarze Hose, cremefarbener Rolli, kein Mantel trotz der Kälte, absolut von sich überzeugt. Roy Crawford hatte seine erste Million gemacht , bevor er dreißig war, und kürzlich zur Feier seines fünfzigsten Geburtstags seiner dritten Ehefrau den Laufpass gegeben , um sich die beste Freundin seiner jüngsten Tochter ins Haus zu holen.
»Hallo , Roy« , sie schüttelte ihm kräftig die Hand , »ich bin wirklich froh , dass Sie sich die Zeit nehmen konnten.«
»Die Firma gehört mir« , gab er leichthin zurück. »Ich mache die Regeln. Hey, Sie packen ganz schön zu.« »Oh, tut mir Leid.« Mattie ließ hastig seine Hand los.
»Ihnen braucht nichts Leid zu tun.«
Ihnen braucht nichts Leid zu tun, wiederholte sich Mattie im Stillen und war wieder zurück im Gerichtssaal 703. Die Erinnerung an ihren
Auftritt stand vor ihr wie von einem grellen Scheinwerfer eingefangen und zeigte ihr Bilder, die für immer in ihr Gedächtnis eingebrannt
bleiben würden. Ihnen braucht nichts Leid zu tun! Genau da täuschen Sie sich, Mr. Crawford. Es gab praktisch nichts , was ihr nicht Leid tun müsste! Von dem unbesonnenen Besuch bei Gericht an diesem Morgen
bis zu der Szene , die sie hingelegt hatte. Und nicht irgendeine Szene , o nein , sondern die Mutter aller Szenen, eine wahre Höllenszene. Szenen einer Ehe, dachte Mattie niedergeschlagen, die wusste , dass Jake ihr niemals vergeben würde. Ihre Ehe war vorbei , dieses erbärmliche Zerrbild einer Ehe , diese Ehe, die nie
Weitere Kostenlose Bücher