Zähl nicht die Stunden
Jake einen Urlaub in Paris schmackhaft zu machen , und mit welcher Sturheit er jedes Mal abgelehnt hatte. Keine Zeit, hatte er gesagt und in Wirklichkeit gemeint , zu viel Zeit. Zu viel Zeit allein zu zweit.
Und nicht genug Liebe. Mattie nahm sich vor , ihr Reisebüro anzurufen, sobald sie wieder zu Hause war. Sie hatte ihre Hochzeitsreise nicht nach Paris gemacht. Aber vielleicht würde sie ihre Scheidungsreise dorthin machen.
»Wie dem auch sei«, sagte sie, und sie fuhren beide ein wenig
zusammen beim plötzlichen Klang ihrer Stimme, »für dieses Bild hat
Ronis seine Frau Modell gestanden. Er hat es in ihrem gemeinsamen
Sommerhaus aufgenommen.«
»Ein sehr erotisches Bild«, bemerkte Roy. »Finden Sie nicht?«
»Ich denke, es wirkt so sinnlich« , meinte Mattie, »weil die Atmosphäre so ungeheuer plastisch ist – man kann beinahe die Wärme der Sonne
spüren, die durch das offene Fenster scheint, man kann die Luft riechen und die Rauheit des alten Steinbodens fühlen. Die Nacktheit ist natürlich ein Teil der erotischen Wirkung, aber eben nur ein Teil.«
»Man möchte sich am liebsten die Kleider ausziehen und direkt zu ihr ins Bild springen.«
»Eine interessante Idee«, meinte Mattie und vermied es peinlichst, sich Roy Crawford nackt vorzustellen, als sie ihn weiterführte , zu einer anderen Serie von Fotografien – zwei schlafende Männer auf einer
Parkbank, streikende Arbeiter auf einer Pariser Straße, arbeitende
Zimmerleute auf dem Land. »In diesen frühen Bildern«, sagte Mattie, der plötzlich der beunruhigende Gedanke kam, dass Roy Crawford vielleicht mit ihr flirten wollte, »ist eine Unschuld, die den meisten späteren Arbeiten Ronis’ fehlt. Zwar bleibt seine Sympathie für die Arbeiterklasse ein Merkmal seiner Arbeit, aber in den Bildern, die er nach dem Zweiten Weltkrieg gemacht hat, ist mehr Spannung. Wie bei diesem hier.« Sie
wies Roy Crawford auf eine spätere Arbeit mit dem Titel Weihnachten hin , auf dem ein Mann mit ernstem Gesicht und einem Blick tiefer
Einsamkeit in den Augen allein inmitten einer Menschenmenge vor
einem Pariser Kaufhaus stand. »Die Verbindung zwischen den
Menschen ist nicht mehr im selben Maß vorhanden«, erklärte Mattie ,
»und diese Distanz wird häufig zum Gegenstand der Fotografie. Ist das verständlich?«
»Es besteht eine Distanz zwischen den Menschen«, wiederholte
Crawford. »Ja, das verstehe ich.«
Mattie nickte. Ich auch, dachte sie, während sie diese späteren
Aufnahmen einige Minuten lang schweigend betrachtete. Sie spürte
Crawfords Arm an ihrem eigenen, wartete darauf, dass er ihn
zurückziehen würde, war merkwürdig froh, als er es nicht tat. Vielleicht doch nicht so viel Distanz, dachte sie.
»Ich mag diese hier lieber.«
Mattie empfand es beinahe wie einen Schmerz , als er sich von ihr entfernte, um zu den Aktfotografien zurückzukehren und mit intensiver Aufmerksamkeit das Bild einer jungen Frau zu betrachten , die sich in herausfordernder Haltung auf einem Stuhl rekelte: Kopf und Hals dem
Auge der Kamera knapp entzogen, eine Brust preisgegeben , die langen Beine zur Kamera hin ausgestreckt, und im Mittelpunkt der
Komposition das dunkle Dreieck der Scham. In der linken unteren Ecke stahl sich listig ein bekleidetes Männerbein ins Bild.
»Bei dieser Arbeit ist die Komposition besonders interessant« , begann Mattie. »Und das Nebeneinander der unterschiedlichen Strukturen –
Holz , Stein –«
»Nacktes Fleisch.«
»Nacktes Fleisch«, bestätigte Mattie. Flirtete der Mann mit ihr?
»Die einfachen Dinge des Lebens«, sagte Crawford.
Nichts ist so einfach, wie es aussieht , hörte Mattie ihren Mann sagen.
Das wissen wir alle.
»Werfen wir hier mal einen Blick hinein.« Mattie führte Crawford in den nächsten Raum. »Und was haben wir da?«
»Danny Lyon«, antwortete Mattie , wieder ganz die professionelle Führerin. »Wahrscheinlich einer der einflussreichsten zeitgenössischen Fotografen in Amerika. Sie können sehen , dass er ganz anders arbeitet als Willy Ronis , auch wenn er dessen Interessen an den Menschen des Alltags und an aktuellen gesellschaftlichen Ereignissen teilt. Diese Aufnahmen hier, die alle die allmählich in Schwung kommende
Bürgerrechtsbewegung zum Gegenstand haben, machte er zwischen
1962 und 1964, nachdem er sein Studium hier in Chicago aufgegeben
und sich per Autostopp in den Süden durchgeschlagen hatte, um der
erste fest angestellte Fotograf des SNCC zu werden , das , wie Sie sich
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