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Zähl nicht die Stunden

Titel: Zähl nicht die Stunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joy Fielding
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einen Schlaganfall« , verkündete sie den schäbigen kleinen Häusern um sie herum. »Genau. Ich hab einen
    Schlaganfall.«
    Eher einen Nervenzusammenbruch , sagte sie sich dann. Wie sonst war dieses bizarre Verhalten zu erklären? Wie sonst war dieser totale Kontrollverlust zu erklären?
    Der Schlüssel war plötzlich ganz leicht ins Schloss der Wagentür
    geglitten. Mattie holte tief Luft, dann noch einmal , schüttelte ihre Finger aus und wackelte in ihren schwarzen Wildlederpumps versuchsweise mit den Zehen. Alles schien ordnungsgemäß zu funktionieren. Und sie hatte aufgehört zu lachen , wie sie erleichtert feststellte , als sie sich ans Lenkrad setzte und im Rückspiegel ihr Aussehen musterte. Dann rief sie über ihr Autotelefon Roy Crawford an und fragte , ob sie sich etwas früher treffen könnten , um sich zuerst die Ausstellung anzusehen und mögliche Erwerbungen danach bei einem Mittagessen , zu dem sie ihn einladen wolle , zu besprechen.
    Tolle Einladung, dachte Mattie jetzt, während sie sich das Gesicht
    wischte und energisch versuchte, sich zusammenzunehmen. Warum war
    Jake ihr nicht nachgekommen? Ihm musste doch sofort klar gewesen
    sein, dass irgendetwas nicht stimmte. Er musste doch gewusst haben, dass dieser Ausbruch kein gegen ihn gerichteter Sabotageakt war. Aber wie hätte er das so genau wissen sollen, da sie selbst ja nicht einmal sicher war.
    »Geht es wieder?«, fragte Roy Crawford, sein Blick eine stumme Bitte um ein schlichtes Ja.
    »Alles in Ordnung«, antwortete Mattie brav. »Vielen Dank.«
    »Wir können das Ganze auch verschieben.«
    »Nein, wirklich, es geht mir gut.«
    »Möchten Sie darüber reden?« Diesmal flehte sein Blick um ein
    schlichtes Nein.
    »Lieber nicht.« Mattie sah Roy Crawford aufatmen. Er hat einen sehr
    großen Kopf, dachte sie zerstreut. »Wollen wir reingehen?«
    Minuten später standen sie vor der Fotografie einer nackten Frau,
    deren Körper in so raffiniertem Winkel zu einem altmodischen
    Waschtisch stand, dass nur ihr Gesäß und der Bogen ihrer linken Brust dem forschenden Auge der Kamera preisgegeben waren.
    »Willy Ronis gehört zu dem berühmten Triumvirat französischer
    Fotografen« , erklärte Mattie in ihrem professionellsten Ton , bemüht , mit ihren Gedanken im Hier und Jetzt zu bleiben. Ihr geschulter Blick glitt über die Schwarz-Weiß-Fotografien , die an den Wänden eines der intimeren Räume des Institute of Art ausgestellt waren.
    Und ebenso wissen wir , hörte sie Jake sagen , dass eine Mischung von Weiß und Schwarz Grau ergibt. Und dazu noch verschiedene Nuancen
    von Grau. Geh weg , Jake, befahl Mattie in Gedanken. Wir sehen uns vor Gericht. Sie hätte beinahe gelacht und musste einen Moment die Zähne zusammenbeißen, um nicht herauszuplatzen.
    »Die beiden anderen Mitglieder der Gruppe sind Henri Cartier-
    Bresson und Robert Doisneau«, fuhr Mattie fort, als sie innerlich wieder ruhig geworden war. »Dieses Bild hier mit dem Titel Nue provençale ist wahrscheinlich Ronis’ bekanntestes und am häufigsten gezeigtes Werk.«
    Nehmen wir uns also ein paar Minuten Zeit, um die unterschiedlichen
    Nuancen von Grau zu prüfen.
    Nein, das werden wir nicht tun, dachte Mattie. »Das Interesse am
    nackten weiblichen Körper ist charakteristisch für Ronis’ Arbeit«, sagte sie.
    »Hat es einen Grund, dass Sie so schreien?«, unterbrach Roy
    Crawford.
    »Habe ich geschrieen?«
    »Nur ein bisschen. Nicht der Rede wert«, wiegelte Roy Crawford
    hastig ab.
    Mattie schüttelte den Kopf, als könnte sie so die Stimme ihres
    Mannes ein für alle Mal loswerden. »Tut mir Leid.«
    »Bitte entschuldigen Sie sich nicht«, sagte Crawford, offensichtlich beunruhigt , sie könnte wieder zu weinen anfangen. Dann lächelte er , es war ein breites, jungenhaftes Lächeln, das perfekt zu seinem großen Gesicht passte , und Mattie verstand in diesem Moment , warum Frauen aller Altersstufen ihn so attraktiv fanden. Halb Draufgänger, halb kleiner Junge – eine tödliche Kombination.
    »Ich wollte immer mal nach Frankreich« , sagte Mattie gedämpft und konzentrierte sich auf die Fotografien, um sich zu beweisen, dass sie ein ganz normales Gespräch unter Erwachsenen führen konnte, obwohl sie
    sich zweifellos mitten in einem totalen Nervenzusammenbruch befand.
    »Waren Sie denn noch nie dort?«
    »Nein.« »Also , das wundert mich bei einer Frau mit Ihrem Beruf und Ihren Interessen.«
    »Das kommt schon noch.« Mattie dachte daran , wie oft sie versucht hatte,

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