Zähl nicht die Stunden
wollte.
Aber ich glaub’s dir nicht mehr, dachte Kim jetzt. Sie war schließlich nicht blind, sie sah die Blicke , die zwischen ihren Eltern hin und her flogen, schnelle Blicke in unbedachten Momenten, die ihre wahren
Gefühle noch deutlicher verrieten als das wütende Geflüster, das mit zunehmender Regelmäßigkeit hinter ihrer geschlossenen
Schlafzimmertür hervordrang. Nie im Leben wären ihre Eltern
zusammengeblieben, wenn sie sich nicht unversehens angemeldet hätte.
Sie hatten nur ihretwegen geheiratet und die Ehe vermutlich beide von Anfang an als Falle empfunden. Und je länger sie in der Falle saßen, desto heftiger wurde ihr Verlangen, ihr zu entkommen. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bevor einer von ihnen die Willenskraft und den Mut aufbringen würde, sich zu befreien. Und was würde dann aus der lieben kleinen Kim werden, hm?
Eines war gewiss: Sie würde sich niemals von ihren Hormonen in eine
Ehe ohne Liebe treiben lassen. Sie würde klug und gut wählen. Aber
hatte sie überhaupt die Freiheit der Wahl? Waren nicht ihre beiden
Großmütter von ihren Ehemännern verlassen worden? Kim rutschte
unbehaglich auf ihrem Sitz hin und her. Waren die Frauen ihrer Familie vielleicht dazu verdammt, treulose Männer zu wählen, die sie eines Tages im Stich ließen? Vielleicht war es unvermeidlich, vielleicht sogar
genetisch bedingt. Vielleicht war es so was wie ein alter Familienfluch.
Kim zuckte mit den Achseln, als könnte sie sich so von dem
beunruhigenden Gedanken befreien, und fegte mit einer unüberlegten
Handbewegung ihr Heft zu Boden. Der Lehrer, Mr. Loewi mit der
breiten Nase und dem roten Gesicht, das seine Vorliebe für Alkohol
verriet, wandte sich von der Tafel ab und blickte nach hinten, zur letzten Bank.
»Gibt’s Probleme?«, fragte er, als Kim sich hastig bückte, um ihr Heft aufzuheben, und dabei ihre Ausgabe von Romeo und Julia mit sich riss.
»Nein, Sir«, antwortete sie schnell und griff nach dem Buch.
Caroline Smith, die in der Bankreihe neben ihr saß und immer eine
große Klappe hatte, beugte sich zum Gang und griff im selben Moment
wie Kim nach dem dünnen Büchlein.
»Du denkst wohl an Teddy?«, flüsterte sie. Sie bildete mit Daumen
und Zeigefinger ihrer linken Hand einen Ring, schob den Zeigefinger ihrer Rechten hindurch und stieß ihn anzüglich ein und aus.
»Spinn dich aus«, zischte Kim.
»Bums mal wieder« , kam es augenblicklich zurück.
»Wollt ihr uns nicht auch an eurem Gespräch teilhaben lassen?« ,
fragte Mr. Loewi.
Caroline Smith kicherte. »Nein , Sir , lieber nicht.«
»Nein , Sir«, sagte auch Kim, legte ihr Buch auf ihr Pult und richtete ihren Blick nach vorn.
»Ich schlage dir vor, wir lesen eine Szene aus Romeo und Julia«, sagte Mr. Loewi. »Seite vierunddreißig. Wo Romeo Julia seine Liebe erklärt.
Kim«, sagte er zu Kims Busen, »lies du doch die Julia.«
Nach der Stunde wartete Teddy auf sie. Er hockte neben ihrem
Garderobenschrank auf der Bank, als sie kam, um ihr Pausenbrot zu
holen.
»Ich hab mir gedacht, wir könnten draußen essen«, meinte er,
während er schlaksig aufstand und sich zu seiner vollen Größe von etwas über einem Meter achtzig aufrichtete. Er nahm Kim bei der Hand und
ging mit ihr durch den langen Korridor, ohne scheinbar auf die Blicke und das Getuschel der anderen zu achten. Er war Aufmerksamkeit
gewöhnt. Sie folgte einem auf Schritt und Tritt, wenn man im Sport ein Ass war, dazu reich und »ein irre toller Typ«, wie es im letzten
Schuljahrbuch unter seiner Fotografie hieß.
»...ist echt schön draußen« , sagte er gerade.
»Hey , dann lass’n doch draußen«, johlte Caroline Smith irgendwo neben ihm. Annie Turofsky und Jodi Bates lachten wie die Wilden.
Die drei Muskatitten, dachte Kim spöttisch. Immer waren sie gleich
angezogen, knallenge Jeans und noch engere Pullis, trugen das glatte braune Haar lang und auf der Seite gescheitelt und hatten sich alle drei vom selben Schönheitschirurgen niedliche Stupsnäschen ins Gesicht
pflanzen lassen , wenngleich Caroline behauptete , sie hätte sich die Nase nur wegen einer schiefen Scheidewand operieren lassen.
»Ihr drei seid ‘ne echte Clownsnummer«, sagte Teddy, legte Tempo zu
und schob Kim zur Seitentür hinaus.
»Hey, am Samstagabend ist ‘ne Party«, rief Caroline ihnen nach. »Bei Sabrina Hollander. Ihre Eltern sind übers Wochenende nicht da.«
»Eine Party mit lauter besoffenen Fünfzehnjährigen« , sagte Teddy sarkastisch.
Weitere Kostenlose Bücher