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Zähl nicht die Stunden

Titel: Zähl nicht die Stunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joy Fielding
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ist vorbei« , sagte sie einfach.
    Nichts ist so einfach, wie es aussieht. Mattie sah die Ampel ein paar Kreuzungen weiter , registrierte, dass sie auf Rot stand, und hob den Fuß, um ihn vom Gaspedal auf die Bremse zu verlagern. Aber es war plötzlich keine Bremse mehr da. Mattie pumpte verzweifelt mit der Ferse, aber sie spürte nichts. Ihr Fuß war taub, sie trat in die leere Luft, und der Wagen hielt ein viel zu hohes Tempo. Sie konnte ihn nicht abbremsen,
    geschweige denn zum Stehen bringen, und auf dem Übergang waren
    Leute, ein Mann und zwei kleine Kinder, um Gottes willen, sie würde genau in sie hineinfahren und sie konnte nichts tun, um es zu
    verhindern. Sie war verrückt oder sie hatte irgendeinen Anfall , aber ganz gleich, ein Mann und zwei kleine Kinder würden ums Leben kommen,
    wenn sie nicht schleunigst etwas dagegen unternahm. Sie musste etwas tun. Irgendetwas.
    Im nächsten Augenblick riss Mattie das Lenkrad des Wagens heftig
    nach links, raste schlingernd auf die Gegenfahrbahn hinüber, direkt
    einem sich nähernden Fahrzeug in den Weg. Der Fahrer des Wagens,
    eines schwarzen Mercedes , versuchte auszuweichen , um einen direkten Zusammenstoß zu vermeiden. Mattie hörte Reifen quietschen , sie hörte das kreischende Krachen von Metall und das Klirren splitternden Glases.
    Es gab einen Knall wie bei einer Explosion, als ihr Airbag sich öffnete und mit einem Schlag wie von einer Riesenfaust gegen ihre Brust prallte, sie in den Sitz presste, gegen ihr Gesicht drückte und ihr allen Raum zum Atmen nahm. Zusammenstoß von Schwarz und Weiß, dachte sie und
    versuchte sich zu erinnern , was Jake in seinem Schlussplädoyer darüber gesagt hatte , dass es kein Schwarz und Weiß gab , sondern hauptsächlich unterschiedliche Nuancen von Grau. Sie schmeckte Blut , sah , wie der Fahrer des anderen Wagens brüllend und wild gestikulierend auf die
    Straße sprang. Sie dachte an Kim , ihre süße , wunderbare Kim, und fragte sich, wie ihre Tochter ohne sie zurechtkommen würde.
    Dann versank alles um sie herum in unterschiedlichen Nuancen von
    Grau, und sie nahm nichts mehr wahr.
    5
    Kims früheste Erinnerung war die an ihre streitenden Eltern.
    Sie saß ganz hinten im Klassenzimmer und kritzelte mit blauem
    Kugelschreiber eine Girlande aus Herzchen quer über den Umschlag
    ihres Englischhefts. Den Kopf hielt sie zur Tafel erhoben , wo der Lehrer stand , aber sie nahm ihn kaum wahr, hatte die ganze Stunde hindurch nicht ein Wort von dem gehört , was er gesagt hatte. Sie setzte sich ein wenig schräg und blickte zum Fenster hinaus , das eine ganze Wand des Raums einnahm. Nicht dass es da draußen viel zu sehen gegeben hätte.
    Früher war dort eine Wiese gewesen, aber die hatte man im letzten Jahr betoniert, um drei Pavillons aufstellen zu können , hässliche graue Fertigkästen mit winzig kleinen Fenstern , so hoch in den Wänden, dass man weder hinaus- noch hineinsehen konnte , und Räumen , in denen man entweder fror oder schwitzte. Kim schloss die Augen und lehnte
    sich zurück, während sie sich fragte , wie es sein würde , wenn sie zur Mathestunde dort hinüber mussten – zu warm oder zu kalt? Was tat sie überhaupt hier , in dieser blöden Schule? War das nicht Sinn und Zweck des Umzugs gewesen , sie aus überfüllten Klassenzimmern herauszuholen in eine Umgebung , die dem Lernen förderlicher war?
    Das war doch der Grund für die ganze Brüllerei gewesen.
    So viel brüllten ihre Eltern allerdings in Wirklichkeit gar nicht. Ihre Wut war leiser, schwerer zu fassen. Es war die Art von Wut, die im
    Verborgenen schwelte , bis jemand leichtsinnig wurde und Zunder in die Glut warf , weil er einen Moment lang vergessen hatte , dass die Wut immer da war, bereit, bei der nächsten Gelegenheit heiß aufzuflammen.
    Wie oft war sie mitten in der Nacht vom Zischen zornig flüsternder
    Stimmen aus dem Schlaf gerissen worden und ins Schlafzimmer ihrer
    Eltern gerannt. Dort hatte sie ihre streitenden Eltern vorgefunden –
    ihren Vater , der wütend auf und ab ging , ihre Mutter m Tränen aufgelöst. »Was ist passiert?« , schrie sie dann jedes Mal ihren Vater an.
    »Warum weint Mama? Was hast du ihr getan?«
    Sie erinnerte sich noch genau an ihre Angst , als sie das erste Mal Zeuge einer solchen Szene geworden war. Wie alt war sie damals ? Drei , vier vielleicht? Sie hatte in ihrem kleinen Messingbett gelegen und ihren Mittagsschlaf gemacht , einen großen ausgestopften Big Bird in einem Arm , einen schon etwas

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