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Zähl nicht die Stunden

Titel: Zähl nicht die Stunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joy Fielding
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wieder hören.
    »Warum gehen wir nicht ein bisschen aus? Komm, gehen wir tanzen«,
    drängte seine Mutter und tanzte in den Vordergrund von Jakes Traum,
    verdrängte mit ihrem blonden Haar und ihren dunklen Augen alle
    anderen Bilder. In ihrem weiten Blumenrock schwenkte sie verführerisch die Hüften vor ihrem Mann, der verbissen seine Zeitung las und keine Notiz von ihr nahm.
    »Hast du gehört? Ich hab gesagt, gehen wir tanzen.«
    »Du hast getrunken.«
    »Nein, hab ich nicht.«
    »Ich riech den Alkohol doch bis hierher.«
    Der schmollende rote Mund seiner Mutter füllte den riesigen
    Bildschirm, der Jakes Unterbewusstsein war. »Na schön, dann gehen wir eben nicht tanzen. Hast du wenigstens Lust, ins Kino zu gehen? Wir
    waren seit Monaten nicht mehr.« »Ich will nicht ins Kino. Ruf eine von deinen Freundinnen an, wenn du ins Kino gehen willst.«
    »Ich hab keine Freundinnen«, gab Eva Hart schnippisch zurück. »Die
    Freundinnen hast du.«
    Jake warf sich wieder auf den Rücken. Zeit zum Aufwachen, flüsterte
    es in seinem Kopf. Wimmerte es. Du willst das doch nicht hören.
    »Sprich nicht so laut«, sagte sein Vater. »Du weckst die Jungs.«
    »Ich wette, deinen Freundinnen verbietest du nicht den Mund. Denen
    sagst du bestimmt nicht, sie sollen leise sein, wenn sie ihre Lustschreie loslassen –«
    »Herrgott noch mal, Eva —«
    »Herrgott noch mal, Warren!«, äffte sie ihn spöttisch nach, und Jake sah, wie ihr Gesicht sich vor Wut verzerrte.
    Warren Hart sagte nichts. Er vertiefte sich wieder in seine Zeitung , hob sie vor sein Gesicht , um seine Frau nicht sehen zu müssen. Nein , dachte Jake. Nein, das ist das Schlimmste, was du tun kannst. Du darfst nicht versuchen, sie zu ignorieren. Sie lässt sich nicht ignorieren. Seine Mutter war wie ein tropischer Sturm, ihre Wut pflegte sich langsam zu steigern und an Gewalt zu gewinnen, bis sie über alles in ihrer
    Umgebung hinwegfegte, ohne Rücksicht darauf, wen sie verletzte, einzig auf Chaos und Zerstörung gerichtet. Sie war eine Naturgewalt, und man durfte sie nicht ignorieren. Wusste denn sein Vater das nicht? Hatte er es nicht inzwischen begriffen?
    »Glaubst du, ich weiß nichts von deinen Freundinnen?«, fragte Eva
    Hart. »Bildest du dir ein, ich wüsste nicht, was du vorhast, wenn du sagst, du müsstest noch mal ins Büro? Glaubst du wirklich, ich wüsste nicht alles über dich, du elendes Schwein?«
    Tu’s nicht, tu’s nicht, tu’s nicht.
    Eva Hart durchstieß mit der geballten Faust die Zeitung ihres
    Mannes. Die Erinnerung riss Jakes Arm in die Höhe und schleuderte ihn mit dumpfem Aufprall wieder aufs Bett hinunter.
    Sein Vater sprang aus dem Sessel am offenen Kamin und warf die
    zerfetzte Zeitung auf den beigefarbenen Spannteppich. Das kleine
    Wohnzimmer schien mit seiner wachsenden Wut zu schrumpfen.
    »Du bist ja verrückt!« , brüllte er und lief hinter dem braunen Velourssofa hin und her. »Du bist vollkommen verrückt.«
    »Du bist ein Verrückter!« Jakes Mutter wollte sich auf ihren Mann stürzen, verlor das Gleichgewicht und stieß beinahe eine Stehlampe um.
    »Ja, ich bin verrückt , bei einer Verrückten zu bleiben.«
    »Warum haust du dann nicht ab , du dreckiger Mistkerl?«
    »Vielleicht tu ich das. Vielleicht werd ich genau das tun.« Jake sah zu , wie sein Vater sein Jackett aus dem Schrank im Flur riss und zur Haustür rannte.
    Du darfst nicht gehen. Du darfst uns nicht mit ihr allein lassen. Bitte kehr um, komm zurück. Du darfst nicht gehen.
    »Glaub bloß nicht , ich weiß nicht, wohin du jetzt gehst! Denkst du vielleicht , ich weiß nicht , dass du das hier nur als Vorwand benutzt? Was zum Teufel bildest du dir eigentlich ein? Du kannst nicht einfach hier rausmarschieren. Du gemeiner Hund. Du kannst mich nicht einfach
    allein hier lassen!«
    G eh nicht, geh nicht, geh nicht.
    »Nein!« , hörte Jake seine Mutter schreien. Sie schlug mit den Fäusten auf die Tür , die ihr Mann vor ihr zugeschlagen hatte, und ihre verzweifelten Schreie jagten durch den kleinen Flur des adretten
    Bungalows und stießen die Tür zu Jakes Schlafzimmer auf, zu dem
    Zimmer , in das seine Brüder sich beim ersten Anzeichen einer Szene zwischen den Eltern geflüchtet hatten und wo sie jetzt alle drei Berge von Büchern und Spielsachen hinter der Tür aufbauten als
    provisorischen Schutzwall, der gegen die Gewalt ihrer Mutter in ihrer ausufernden Hysterie wirkungslos war.
    Hinter geschlossenen Lidern sah Jake, wie die drei Brüder, drei , fünf

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