Zähl nicht die Stunden
Versteck kroch, um das Fenster neben seinem Bett zu öffnen. Mehr als einen Spalt brachte er es nicht auf, aber der sei groß genug, versicherte er seinen Brüdern wiederholt, während sie den Rest der Nacht dicht aneinander gekuschelt im Dunklen hockten, um ausreichend frische Luft hereinzulassen. Das Gas könne ihnen jetzt nichts anhaben.
»Ich nehme an, ich kann mich einfach nicht daran gewöhnen , bei geschlossenem Fenster zu schlafen« , sagte Jake verlegen.
»Du meinst , das Fenster ist an deinen Albträumen schuld?« Honey war verwundert.
Jake antwortete mit einem verneinenden Kopfschütteln und
verscheuchte ihre Besorgnis mit hektischen Handbewegungen. Was zum
Teufel, er war ein erwachsener Mann. Seine Mutter war seit Jahren tot.
Er würde sich doch wohl daran gewöhnen können, bei geschlossenem
Fenster zu schlafen.
»Das tut mir wirklich Leid, Jason. Aber es ist wegen der Katzen.
Einmal hat irgendjemand das Fenster nur einen Spalt aufgemacht, und
schon war Kanga weg. Ich habe ihn erst nach Tagen zurück bekommen.«
Wie auf Kommando sprangen die beiden Katzen aufs Bett. Kanga
war eine achtjährige rote Tigerkatze; Roo war vier Jahre alt und
rabenschwarz. Beide waren männlichen Geschlechts und überhaupt
nicht begeistert darüber, sich die Zuneigung ihrer Herrin mit einem dahergelaufenen Zweibeiner teilen zu müssen. Jake erwiderte die
Abneigung. Er hatte nie viel für Katzen übrig gehabt. Hunde waren ihm lieber , wenn auch Mattie es immer abgelehnt hatte , einen Hund ins Haus zu holen. Mattie! , dachte er. Mit Schwung schob er Kanga von seinem Bein , stand auf und schlüpfte in seinen dunkelblauen Bademantel.
Warum musste er gerade jetzt an Mattie denken?
Er blickte Honey nach , die mit herausfordernd wackelndem nackten Gesäß und zerzaust abstehendem roten Haar im Badezimmer
verschwand. Wenig später kam sie in einem weißen Frotteemantel
wieder heraus, das Haar mit einem Gummiband hoch oben am
Hinterkopf zusammengehalten, was allerdings bei der widerspenstigen Pracht nicht allzu viel half. Schon hatten sich die ersten Löckchen wieder gelöst und ringelten sich in ihrem Nacken.
»Ich mach uns Kaffee, okay?« Honey warf einen Blick auf die Uhr auf
dem Nachttisch. »Es ist ohnehin gleich Zeit aufzustehen.«
»Klingt gut.«
»Magst du Schinken und Eier dazu?«
»Nur Kaffee, bitte.«
»Gut, Kaffee.«
Na bitte, dachte Jake. Genau da war der große Unterschied zwischen
Honey und Mattie. Mattie hätte auf den Eiern mit Schinken bestanden.
»Ganz sicher nicht?«, hätte sie gefragt. »Du solltest was essen, Jake, du weißt, dass das Frühstück die wichtigste Mahlzeit des Tages ist.« Und irgendwann hätte er nachgegeben, die Eier mit Schinken
hinuntergewürgt, die er gar nicht haben wollte, und sich den Rest des Vormittags voll und aufgebläht gefühlt.
Honey nahm ihn beim Wort. Da gab es kein zweifelndes Nachfragen , keine Unsicherheit darüber , ob er meinte , was er sagte. Wenn er sagte, er wolle nur Kaffee , dann würde er auch nur Kaffee bekommen.
Honey schloss die Arme um ihn und küsste ihn auf den Mund. Er
schmeckte noch die Zahnpasta in ihrem Atem , roch den Flieder auf ihrer Haut. »Vielleicht wären Eier mit Schinken doch nicht so übel«, sagte er.
Sie lächelte. »Hast du Lampenfieber?«
»Ein bisschen vielleicht.« Vor ihm lag eine wichtige Besprechung mit einem möglichen neuen Mandanten ,
einem vermögenden
Geschäftsmann mit beträchtlichem Einfluss, der beschuldigt wurde, vor mehr als zwanzig Jahren mehrere Frauen vergewaltigt zu haben, was er entschieden bestritt. Es versprach, einer dieser publicityträchtigen, interessanten Fälle zu werden, die Jake liebte. Aber er war nicht wegen des Zusammentreffens mit diesem Mann nervös. Er war nervös wegen
der Zusammenkunft mit Mattie, die für den Nachmittag vereinbart war.
Beinahe zwei Wochen waren seit Eisas vernichtender Diagnose
vergangen. In dieser Zeit hatte Mattie eine zweite und dann noch eine dritte Meinung eingeholt. Die Ärzte – der Chef der neurologischen
Abteilung im Northwest General Hospital sowie ein Neurologe an einer Privatklinik in Eake Forest – stimmten in ihrer Diagnose überein:
Amyotrophische Eateralsklerose. ALS. Eine schnell fortschreitende
neuro-muskuläre Krankheit , die die motorischen Neuronen angriff. Die Folge waren Schwächung und Verkümmerung der Muskeln in Armen ,
Beinen, Mund, Hals, kurz, im ganzen Körper, die schließlich zur völligen Lähmung führen würden,
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