Zähl nicht die Stunden
Jakes Augen aufflackern.
»Was soll das heißen, es ist in Ordnung, wenn Mutter und Vater
rumschlafen?«, fragte er, als hätte er Matties Bemerkung eben erst aufgenommen. »Was willst du damit sagen?«
»Jake, ich –«
»Hast du eine Affäre?«
Zu spät, um zu leugnen. Außerdem – wozu? »Na ja, eine Affäre
würde ich es nicht gerade nennen.«
»Das hattest du also heute Abend vor. Du warst mit einem anderen
Mann zusammen?«
»Stört dich das?«
»Ich weiß nicht.« Jake schien völlig entgeistert.
Mattie merkte, wie Jakes Reaktion sie zu reizen begann. »Du glaubst
wohl, du wärst der Einzige , der ein Recht auf Sexund Erotik hat?«
»Nein , natürlich nicht.«
»Ich finde , du hast überhaupt kein Recht, dich aufzuregen.«
»Ich glaube, ich bin vor allem verblüfft.«
Jetzt wurde Mattie zornig. »Wieso zum Teufel bist du verblüfft?
Glaubst du vielleicht, Männer finden mich nicht attraktiv?«
»Das meinte ich nicht.«
»Wie deine Tochter es neulich so zutreffend ausdrückte – ich bin
noch nicht tot.« Jake taumelte, als hätte er einen Stoß erhalten. »Mattie , hör auf! Gib mir wenigstens eine Minute Zeit , um Luft zu holen. Ich hab eben erfahren, dass sowohl meine Tochter als auch meine Frau ein
Verhältnis haben.«
»Jeder von uns hat ein Verhältnis«, unterbrach Mattie ihn, immer
noch aufgebracht.
»Jeder von uns hat ein Verhältnis«, wiederholte Jake benommen.
»Weißt du, vielleicht sollten wir uns doch lieber setzen.«
Mattie ging ins Wohnzimmer und ließ sich auf das beigefarbene Sofa
fallen. Müdigkeit umfing sie augenblicklich, kroch in alle ihre Glieder, zerrte an ihrem Hals und ihren Schultern wie ein ungebärdiges kleines Kind. Warum hatte sie Jake von ihrem Seitensprung erzählt? Hatte sie es wirklich nur versehentlich getan, in der Hitze des Moments unbesonnen ausgeplaudert? Oder waren da heimliche Kräfte am Werk? Hatte sie ihn vielleicht ganz bewusst schockieren wollen? Verletzen wollen? Wenn ja, warum war sie so wütend angesichts seiner Reaktion? Was hatte sie denn erreichen wollen? Warum hatte sie ihn aus Honeys Wohnung nach
Hause beordert? Was wollte sie ihm wirklich sagen?
Sie wartete schweigend, während er sich in einen der Sessel ihr
gegenüber setzte und die Beine in voller Länge vor sich ausstreckte.
Neugierig sah er sie an. »Kenne ich ihn?«
Einen Moment lang wusste Mattie nicht, wovon Jake sprach. »Was?
Ach so, nein«, antwortete sie und sah ihren Mann und Roy Crawford
beim höflichen Händedruck. »Nein, es ist niemand, den du kennst.«
»Wie hast du ihn kennen gelernt?«
»Spielt das eine Rolle?«
Jake schüttelte den Kopf. »Nein, eigentlich nicht.« Er sah sich hilflos um. »Liebst du ihn?«
Mattie hätte beinahe gelacht. »Nein.«
Ein langes Schweigen folgte , in dem Mattie Ordnung ins Chaos ihrer Gedanken zu bringen suchte. In ihrem Kopf ging alles so durcheinander , dass sie kaum wusste, wo sie anfangen sollte. Warum hatte sie ihn nach Hause geholt? Was wollte sie ihm sagen? »Warum bist du
zurückgekommen, Jake?«, fragte sie schließlich.
»Du hast angerufen. Du sagtest , ich müsste sofort nach Hause kommen.«
»Ich spreche nicht von heute Abend.«
Jake schloss die Augen. »Ich verstehe nicht.«
»Du warst gegangen. Du wolltest neu anfangen. Dann rief Lisa uns in
ihre Praxis und eröffnete uns, dass ich –« Mattie geriet ins Stolpern, raffte sich aber gleich wieder auf. »Dass ich eine tödliche Krankheit habe«, sagte sie mühsam. »Dass ich sterben muss.« Noch immer wartete sie darauf, dass sie die Worte begreifen würde.
Jake machte die Augen wieder auf und sah sie schweigend an.
»Es fällt mir entsetzlich schwer , das auszusprechen« , sagte Mattie.
»Und es fällt mir noch schwerer , es zu glauben. Ich meine, ich denke ständig, dass es nicht möglich sein kann. Wieso soll ich sterben, wo ich doch erst sechsunddreißig Jahre alt bin? Ich sehe immer noch ganz gut aus. Ich fühle mich immer noch ziemlich gut. Nur weil ich ab und zu mal stürze, und meine Hände fast die ganze Zeit zittern –«
»Sie zittern die ganze Zeit?« Jake richtete sich mit einem Ruck in seinem Sessel auf. »Hast du das Lisa gesagt?«
»Ich sag es dir«, entgegnete Mattie leise.
»Aber Lisa kann vielleicht was verschreiben.«
»Ich werde ganz gut damit fertig, Jake. Außerdem geht es nicht
darum.«
»Es geht aber darum, dass du Schwierigkeiten hast —«
»Es geht darum, dass ich sterben muss«, sagte Mattie noch einmal.
»Und
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