Zähl nicht die Stunden
Terrasse hinaus. Die kalte Nachtluft legte sich um ihre Schultern und hüllte sie ein , während sie zum Pool hinausblickte , der unter der Schutzdecke für den Winter verborgen war. Würde sie dort noch einmal schwimmen? Unwahrscheinlich , dachte sie. »Ich muss sterben« , wiederholte sie flüsternd, und die Worte blieben trotz der Wiederholung so unbegreiflich und unwirklich wie zuvor. »Aber noch nicht. Erst werde ich noch Paris sehen.«
Mattie lachte. Mit eisernem Willen schob sie ihre Füße über den
Boden der Terrasse zum Geländer und lehnte sich dagegen. Bis Paris
waren es noch drei Monate. Bis dahin würde sie vermutlich noch
einigermaßen funktionieren. Episoden wie diese hier hatte sie schon ein paar Mal erlebt. Sie kamen und gingen. Jede allerdings hielt länger an, jede schwächte sie mehr. Aber was würde nach Paris kommen? Bis dahin wäre beinahe ein halbes Jahr seit Lisas tödlicher Diagnose vergangen.
Sechs Monate der kurzen Zeit, die ihr noch blieb, würden verstrichen sein. Und die folgenden sechs Monate? Was würde da auf sie
zukommen? Würde sie es ertragen , einfach dazusitzen und hilflos zuzusehen, wie ihre Nervenzellen langsam eingingen , bis sie nicht mehr sprechen konnte , nicht mehr essen oder atmen , ohne Erstickungsanfälle zu bekommen? Würde sie das schaffen?
Hatte sie denn eine Wahl?
Wir haben immer eine Wahl , dachte Mattie. Sie brauchte nicht zu warten, bis die Krankheit ihren Körper restlos verwüstet hatte und sie ihr hilflos ausgeliefert war. Sie konnte die Dinge selbst in die Hand nehmen, solange ihre Hände noch zu gebrauchen waren. Sie hatte keine
Schusswaffe – sich selbst eine Kugel in den Kopf zu jagen war also ausgeschlossen. Und sie bezweifelte, dass sie selbst jetzt noch die Kraft und die ruhige Hand besaß, mit denen ein Messer geführt werden
musste. Hängen war zu kompliziert, und bei einem Sturz die Treppe
hinunter war der Erfolg nicht garantiert.
»Ich könnte ins Wasser gehen«, sagte sie und glitt in Gedanken unter die hässliche grüne Plane des Pools. Man deckte den Pool ein paar
Wochen früher ab als sonst. Warte, bis alle aus dem Haus sind und
verschwinde schnell und lautlos ohne großes Theater unter der
Wasserfläche.
Und dann findet mich Kim, dachte Mattie voller Entsetzen. Nein, das
konnte sie nicht riskieren. Komme, was da wolle, Kim musste geschützt werden.
Sie musste eine andere Möglichkeit finden.
Mattie stieß sich vom Terrassengeländer ab, schwankte gefährlich auf unwilligen Füßen, die erst jetzt langsam wieder spürbaren Kontakt mit dem Boden hatten. Langsam ging sie in die Küche zurück. »Ich werde
sterben« , sagte sie ungläubig zu sich selbst , während sie durchs Vestibül zur Treppe schlurfte. »Ich habe noch ein Jahr. Vielleicht länger.« Ihre Hand , die nach dem Geländer griff , berührte eine braune Lederjacke , die Mattie nicht kannte.
Sie sah sich die Jacke näher an. Es war eine Herrenjacke , aber nach Jake sah sie nicht aus. Gehörte sie Kim? Hatte sie sich die Jacke vielleicht von einem der Jungen in der Schule ausgeliehen?
Die Jacke wurde Matties Händen zu schwer , sie entglitt ihren Fingern und fiel zu Boden.
»Vielleicht nicht einmal mehr ein Jahr« , flüsterte Mattie, und die Tränen stiegen ihr in die Augen, als sie langsam und vorsichtig die
Treppe hinaufzugehen begann.
Weniger als ein Jahr.
Im oberen Flur verschnaufte sie ein paar Sekunden. Die Tür
zu Jakes Zimmer war offen, ebenso die zu Kims Zimmer. Das
war ungewöhnlich. Kim schlief immer bei geschlossener Tür.
i War es möglich, dass Kim ihr Verbot einfach missachtet hatte
und ausgegangen war?
»Kim?«, rief Mattie leise und näherte sich der offenen Tür. Sie blickte hinein.
Das Zimmer war dunkel, aber selbst in der Dunkelheit konnte Mattie
erkennen, dass Kim gründlich aufgeräumt hatte. Armes Kind, dachte sie.
Sie ist wahrscheinlich todmüde gewesen danach. Darum ist sie so früh zu Bett gegangen. Darum hat sie mich nicht gehört. Darum hat sie
vergessen, ihre Tür zu schließen.
Mattie ging leise ins Zimmer. Sie wollte ihrer Tochter einen Gute-
Nacht-Kuss geben, wie sie das jeden Abend getan hatte, als Kim noch
klein gewesen war. Mein süßes kleines Mädchen, dachte Mattie und
näherte sich vorsichtig dem Bündel unter der schweren Steppdecke. Sie zog die Decke zurück, wollte ihre Tochter auf die Stirn küssen, als sich das Bündel neben Kim plötzlich rührte. Plötzlich war die Hölle los.
Mattie schrie, Kim
Weitere Kostenlose Bücher