Zähl nicht die Stunden
ich kann es auf die Dauer nicht mehr leugnen, so sehr ich das
versucht habe. Mein Körper macht einfach nicht mit. Jeden Tag, wenn ich erwache, nehme ich eine winzige Veränderung wahr. Ich versuche
mir einzureden, das wäre Einbildung, aber ich weiß, dass es das nicht ist.
So sonderlich blühend war meine Phantasie nie.« Sie versuchte zu lachen , aber der Laut verhieß Tränen. »Ich kann nicht mehr so tun , als würde ich bald wieder gesund, als würden diese Symptome einfach wieder
verschwinden«, sagte sie. »Das ist zu anstrengend. Dazu fehlt mir die Kraft.«
»Niemand verlangt von dir, etwas vorzutäuschen.«
»Du verlangst jedes Mal, wenn du zur Haustür hinausgehst, dass ich
etwas vortäusche«, entgegnete Mattie ruhig. Sie merkte, wie ihr Kopf plötzlich klar wurde und die Gedanken scharfe Form annahmen. »Jedes
Mal, wenn du anrufst und mir erzählst , dass du länger in der Kanzlei bleiben musst oder mit einem Mandanten zum Abendessen gehen musst , jeden Samstagnachmittag, wenn du behauptest, du müsstest noch mal in die Kanzlei und ein paar Stunden arbeiten. Du hast heute Abend von mir verlangt, etwas vorzutäuschen«, sagte Mattie, lauter werdend. »Ich kann nicht mehr, Jake. Ich kann nicht mehr so tun als ob. Deshalb habe ich dich bei Honey angerufen. Deshalb habe ich dich gebeten, nach Hause
zu kommen.«
Ein paar Sekunden lang sagte Jake gar nichts. Dann sagte er: »Erkläre mir, was du von mir erwartest. Ich weiß ja nicht, was du von mir willst.«
»Warum bist du zurückgekommen, Jake?«, fragte Mattie noch einmal.
»Was, dachtest du, würde geschehen? Was hattest du im Sinn?«
»Ich hatte das Gefühl , ich sollte hier sein« , antwortete er , wie er schon früher gesagt hatte. »Ich sollte für dich und für Kim da sein. Wir haben das doch besprochen. Du warst einverstanden.«
»Ich sehe das jetzt anders.«
»Was?«
»Es reicht nicht« , sagte Mattie einfach. »Ich brauche mehr.« Sie dachte an Roy Crawford , an seine Berührungen. »Und ich rede nicht einfach von Sex.« Sie stieß Roy weg. »Ich brauche mehr«, wiederholte sie. Jake öffnete den Mund , um etwas zu sagen , und schloss ihn wieder, als die Worte ihn verließen. Hilflos schüttelte er den Kopf.
»Ist dir aufgefallen , wie glücklich Stephanie gestern Abend aussah?« , fragte Mattie.
»Was hat denn Stephanie damit zu tun?«
»Sie hat strahlend ausgesehen« , fuhr Mattie fort , ohne seine Frage zu beachten. Ihre Worte waren mehr an sie selbst als an Jake gerichtet. »Ich musste sie dauernd ansehen , und immer dachte ich bei mir , so möchte ich mich auch fühlen. Bitte , lieber Gott , gib mir noch eine Chance, mich so zu fühlen. So glücklich und strahlend. Verstehst du, was ich sagen will?«
Jake schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht sicher.«
Mattie richtete sich auf und rutschte zur Sofakante vor. »Ich werde versuchen, es einfach zu machen, Jake. Der Arzt sagt dir, dass du noch ein Jahr zu leben hast. Was machst du mit diesem einen Jahr?«
»Mattie, das ist doch irrelevant.«
»Im Gegenteil, es ist sehr relevant. Beantworten Sie die Frage, Herr Rechtsanwalt. Ein Jahr – was tun Sie damit?«
»Ich weiß es nicht.«
»Würdest du es mit einer Frau verbringen , die du nicht liebst?«
»So einfach ist es nicht« , behauptete er.
»Es ist sogar sehr einfach. Du hast mich damals geheiratet, weil ich schwanger war, weil du im Grunde deines Herzens ein anständiger
Mensch bist, der das Rechte tun wollte. Aus dem gleichen Grund bist du zu mir zurückgekehrt, als wir von meiner Krankheit erfuhren. Und das ist wirklich edel und bewundernswert. Ich weiß es zu würdigen. Jake, glaub mir. Aber du hast deine Strafe verbüßt. Du wirst wegen guter
Führung vorzeitig entlassen. Du musst nicht länger hier bleiben.«
»Aber du wirst jemanden brauchen, der sich um dich kümmert .
Mattie.« »Ich brauche keinen Babysitter« , widersprach Mattie. »Ich brauche einen Menschen in meiner Nähe , der mich liebt. Was ich bestimmt nicht brauche , ist jemanden, der eine andere liebt.«
»Was soll ich denn tun? Sag mir, was ich tun soll, und ich tu’s.«
»Du sollst dir genau überlegen, warum du zurückgekommen bist«,
verlangte Mattie. »Hast du es für mich getan oder für dich? Wenn du es nämlich für dich getan hast, damit du dir nichts vorzuwerfen brauchst und dich gut fühlen kannst, bin ich nicht interessiert. Ich habe keine Lust, mich von dir dazu benutzen zu lassen, dir ein gutes Gefühl zu
verschaffen. Ich bin
Weitere Kostenlose Bücher