Zaehme mich
wünschte, er wäre nie zurückgekehrt. Bevor er wieder in ihr Leben getreten war, hatte sie ihre Zeit zum größten Teil allein in ihrer Wohnung verbracht, und es war ihr damit nie so schlecht gegangen. Es war bestürzend, dass sie sich in der Liebe einsamer fühlte als im Alleinsein. Es war bestürzend, dass sie in ihrer Einsamkeit immer an Jamie denken musste. Und noch bestürzender war, dass sie bei jedem Familienmitglied, jedem Freund, an dessen Namen sie sich erinnern konnte, und sogar bei der Rezeptionistin in seiner Arbeit Nachrichten für Jamie hinterlassen hatte, ohne je etwas von ihm zu hören. Sie spielte mit dem Gedanken, ihm einen Brief zu schicken, doch offensichtlich wollte er in Ruhe gelassen werden.
Nach drei Monaten hatte sie akzeptiert, dass Jamie nicht die Leere füllen würde, die sich jedes Mal in ihrer Brust ausbreitete, wenn Daniel zur Arbeit ging, und dass das auch in Ordnung war. Jamie gehörte der Vergangenheit an, und die Vergangenheit hatte sowieso nichts getaugt.
Jetzt hatte sie Daniel, er war alles für sie, und wenn er alles war, gab es auch nichts zu vermissen.
An den Abenden suchten sie abwechselnd Bücher aus Daniels großer Sammlung aus, um sich daraus vorzulesen.
Manchmal war es wieder wie im Unterricht, nur dass sie beide beim Reden Rotwein tranken und rauchten. Und wenn dann unweigerlich das Buch weggelegt wurde, weil das Verlangen die Oberhand gewann, konnten sie so viel Lärm machen, wie es ihnen passte.
Sarah provozierte ihn gern mit der Zurschaustellung der Kenntnisse und Meinungen, die sie sich nach seinem Abschied aus Sydney angeeignet hatte. Besonders umstritten war Sturmhöhe: Daniel hielt den Roman für die größte Liebesgeschichte aller Zeiten; Sarah war empört.
»Diese blöde Catherine würde die wahre Liebe doch nicht einmal erkennen, wenn sie ihr auf den Kopf fällt, und das wäre auch das Beste, denn der müsste wirklich mal was auf den Kopf fallen, damit sie aufwacht. Sie sagt, dass sie und Heathcliff eine gemeinsame Seele haben oder irgend so einen Scheiß, aber dann läuft sie davon und heiratet Linton, diese Pfeife. Wenn du schon von großen romantischen Schauerromanen reden musst, dann schau dir mal Jane Eyre an. Da hast du eine Heldin, die von Anfang an ums Überleben kämpfen muss, weil man ihr ihre Daseinsberechtigung streitig macht. Aber sie bewahrt sich nicht nur ihre Eigenständigkeit, sondern erringt damit auch noch die Liebe eines schwierigen, dominanten Mannes. Das finde ich viel romantischer als diese doofe Catherine, die sich so weit von Heathcliff beherrschen lässt, dass sie sogar meint, er zu sein .«
»Aber die Liebe zwischen Catherine und Heathcliff ist bedingungslos«, wandte Daniel ein. »Jane kann sich Rochester erst hingeben, nachdem er für seine Vergangenheit bestraft worden ist. Er ist erblindet und verkrüppelt, gedemütigt und sogar fromm. Catherine dagegen weiß, dass Heathcliff ein Ungeheuer ist, und liebt ihn trotzdem. Sie will nicht, dass ihm die Krallen ausgerissen werden.«
Sarah musste zugeben, dass sein Argument bestechend war, doch die Diskussion hatte ihr so viel Spaß gemacht, dass sie absichtlich Bücher aussuchte, über deren Qualität sie sich nicht einig waren. Sie lästerte vehement gegen Herz der Finsternis, das Daniel für ein Meisterwerk hielt, und schockte ihn mit der Behauptung, Sylvia Plaths Gedichte seien vollendeter als die von Ted Hughes. Dafür band er sie an einen Stuhl und ließ sie erst wieder frei, nachdem sie alle Gedichte in Birthday Letters auswendig gelernt hatte. Einen ganzen Tag und eine ganze Nacht saß sie so. Sie machte sich in die Hose, sie bettelte um Zigaretten, sie weinte, doch sie bat nicht darum, losgebunden zu werden. Als er ihr schließlich die Fesseln abnahm, sagte sie ihm, dass sie Ted Hughes mehr denn je hasste. Daniel lachte und nannte sie ein dummes Mädchen, doch sie sah es seinen Augen an, dass er stolz auf sie war.
Abgesehen von gelegentlichen Besuchen in Läden oder in Restaurants zusammen mit Daniel ging Sarah nicht hinaus.
An den meisten Tagen sprach sie mit niemandem außer Daniel. Sie fühlte sich abgeschnitten von der Welt und entwickelte eine Nachrichtenmanie. Jeden Tag joggte sie zu dem pakistanischen Lebensmittelgeschäft an der Ecke und kaufte den Telegraph und den Herald sowie den Australian. Und jede Woche las sie The Bulletin und Time von vorn bis hinten durch.
Zum Spaß brachte ihr Daniel die Cosmopolitan mit. Er kam sich schon ganz dumm vor, erklärte
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