Zaehme mich
geschlossen war, die einen Tag und eine Nacht in ihrer Müllkippe verbrachten, ohne die Farbe ihrer Wände oder die Lage ihrer Küche zu bemerken.
»Ist das …« Der Mann sah sie gequält an. »Wohnen Sie allein?«
»Ja.« Sarah marschierte an ihm vorbei, knipste rechts die Schlafzimmerlampe und dann links das Licht zum Bad an.
Das im Flurküchenwohnzimmer brannte bereits. Der Mann spähte weiter durch das Halbdunkel. Sie musste sich wirklich eine ordentliche Lampe besorgen. Eine große, helle Stehlampe fürs Sofa. Andererseits wozu eigentlich? Sie machte hier sowieso nichts anderes als schlafen, ficken und lernen, und solange sie noch ihre Bücher erkennen konnte, brauchte sie nicht mehr Licht.
»Wohnen Sie schon lange hier?«
Sarah gab ihm ein Bier und machte sich auch eins auf.
»Schon ewig.« Tatsächlich kam es ihr so vor. Es waren fünf Jahre, fast ein Viertel ihres gesamten Lebens.
Der Mann nippte an seinem Bier und starrte unverwandt auf die nikotingelbe Wand vor sich. »Wie alt sind Sie, haben Sie gesagt?«
»Ich hab gar nichts gesagt.« Sarah schälte sich aus ihrer Jacke und schleuderte mit einem Seufzer der Erleichterung die Schuhe von sich. »Zigarette?«
»Nein, ich bin Nicht…« Er nickte in Richtung des Haufens von Lehrbüchern auf dem ausklappbaren Couchtisch. »Sie sind Studentin.«
»Wenn ich nicht gerade Kellnerin bin.« Sarah ließ sich auf einen ihrer Fünf-Dollar-Stühle fallen und lud den Mann mit einer Geste ein, auf dem anderen Platz zu nehmen. Zögernd, vielleicht weil er dem klapprigen alten Ding nicht so recht traute, senkte er seinen Hintern, bis er auf der Stuhlkante gelandet war.
»Was studieren Sie, wenn ich fragen darf?«
»Literatur.« Sarah drückte ihre halb gerauchte Zigarette aus. Zuerst hatte sie ihn für den schüchternen Typ gehalten, doch jetzt war ihr klar, dass er ein Beschützer war. In seinen kleinen, schwarzen Augen sah sie förmlich, wie sich die Rädchen drehten: dass es nur wenig kosten würde, ihr ein paar anständige Möbel zu besorgen, dass er doch wenigstens ihre Studiengebühren bezahlen konnte; dass er darauf achten sollte, sie immer abzuholen, wenn sie bis spät nachts arbeitete, damit sie nicht allein in dieses schreckliche Loch zurückkehren musste.
»Hey, Sie haben noch nicht die Aussicht genossen.«
Sarah ging die drei Schritte zum Schlafzimmer und dann die zwei zum Schlafzimmerfenster. Auch ohne sich umzusehen, wusste sie, dass er ihr gefolgt war.
»Eine kleine Gasse.« Ein Anflug von Ärger lag in seiner Stimme. »Eine Gasse voller Müll.«
»Wie pessimistisch. Sie blicken auf eine Goldgrube.
Schauen Sie, da sind zwei Matratzen, ein paar Autoreifen, und der Korbstuhl da drüben wär doch klasse, wenn der Sitz nicht ausgeschlagen wäre.« Sarah spürte seinen Atem im Nacken. »Der Fernseher in der Küche stammt aus dieser Gasse. Hat zwar keine Farbe, aber ansonsten funktioniert er ganz gut. Ich schau mir gern die Spätnachrichten an, wenn ich von der Arbeit komme. Da bin ich nicht so allein.«
»Haben Sie keine Eltern?«
»Jeder Mensch hat Eltern, Dummerchen.«
»Aber wo sind sie? Warum leben Sie auf diese Weise?«
Sarah gefiel es, dass er sie verstehen wollte. Nicht dass es jemals so weit kommen würde, keine Chance. Aber es gefiel ihr, dass er es versuchte. Sie griff hinter sich, nahm seine Hände und legte sie sich um die Taille. Er gab einen kleinen erfreuten Laut von sich und strich mit den Lippen über ihren Nacken.
»Kennen Sie Jane Eyre ?«, fragte sie.
»Ob ich … was?« Er war hörbar erstaunt, erholte sich aber schnell. »Ach ja, ja, ich glaube schon, in der Schule damals habe ich es gelesen. Lange her.«
»Erinnern Sie sich noch, warum Jane den Komfort von Thornfield Hall aufgibt, obwohl sie dadurch obdachlos und arm wird? Warum sie freiwillig ihren Rang als Gouvernante gegen den einer Bettlerin eintauscht?«
»Ich …« Er lachte leise in ihr Haar. »Ich habe keine Prüfung erwartet. Ich bin nicht vorbereitet.«
»Sie hat das Haus verlassen, weil ihr ihre Würde wichtiger war als äußerliche Bequemlichkeit.« Sarah drehte sich um und schaute ihm ins Gesicht. »Und das ist auch der Grund, warum ich auf diese Weise lebe.«
Ach, das Mitleid in seinen Augen! Sarah nahm ihm die Brille ab, um es ungehindert sehen zu können, und die reine, tränenfeuchte Aufrichtigkeit dieses Gefühls ließ die Sehnsucht in ihr aufflammen. Voller Leidenschaft küsste sie ihn, zerrte an seinem Hemd, seinem Gürtel, seinem Hosenschlitz.
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