Zaehme mich
zu versäumen. Sie hatte bis spät abends gearbeitet und danach noch gefeiert, sie war müde und gerädert vom Alkohol, sie musste dringend putzen, waschen und sich hinter ihre nächste fällige Arbeit klemmen. Doch sie wusste, dass ihr schon ein einziger Tag schaden würde, weil er ihr scheinbar gar nicht wehtat und sie dadurch in Versuchung führte, das Ganze so lange zu wiederholen, bis es problematisch wurde. Also schleppte sie jeden Tag ihren erschöpften, schmerzenden Kadaver aus dem Bett, schmiss sich in ihre am wenigsten schmutzigen Klamotten, stolperte durch die wild verstreuten Bierdosen von letzter Nacht und latschte die zwei Straßenzüge bis zur Bushaltestelle. Sie setzte sich immer ganz hinten hin, den Kopf gegen die Scheibe gelehnt, die Beine auf dem Sitz, damit niemand neben ihr Platz nahm. Die Fahrt dauerte zwölf Minuten, in denen sie nichts weiter beschäftigte als die Frage, wie sie diesen Tag überleben sollte. Bestimmt wurde ihr wieder kotzübel vom Gestank des Blut-und-Knochen-Düngers auf dem Unirasen. Und in Gender Studies schlief sie garantiert ein. Wenn sie es bis zum Mittagessen schaffte, ohne zusammenzuklappen, würde es an ein Wunder grenzen.
Doch jeden Tag trat dieses Wunder ein. Egal wie schlapp sich Sarah fühlte, wenn sie aus dem Bus wankte, der Anblick des Miles Franklin Building erfrischte sie sofort. Es war kein schönes Gebäude, sondern ein stinknormaler roter Ziegelbau aus den Siebzigern mit vier Stockwerken, Spiegelglas und vergitterten Fenstern. Aber es war Sarahs eigentliches Zuhause, ihre geistige Heimat. Wenn sie es sich leisten konnte, nicht zu arbeiten, verbrachte sie jede Minute hier. Sie liebte den Aufenthaltsraum für die Studenten, mit seinen abgenutzten orangefarbenen und grünen Sofas, den angestoßenen Resopaltischen und den wackligen Stühlen.
Sie liebte die vorsintflutliche silberne Kaffeemaschine, die nur Studenten ab dem zweiten Jahr bedienen konnten, ohne sich zu verbrühen. Sie liebte das Quietschen ihrer Turnschuhe auf dem Linoleumboden, das ständige Schlagen der Eingangstür gegen den Rahmen an windigen Tagen, den verborgenen Winkel unter der Treppe zwischen dem dritten und vierten Stock, wo man bei Joe immer Gras kaufen oder zumindest einen Zug nehmen konnte. Sie liebte die alten Kiffer, die sich für ihren B.A. zehn Jahre Zeit ließen, und sie liebte die nagelneuen Erstsemester, die mit ernster Miene über die Theorien von Barthes und Lacan diskutierten, als wären auch sie nagelneu. Am meisten jedoch liebte sie die Seminare, in denen sie schwankte zwischen der Gewissheit, sich auf die eigenen Kenntnisse verlassen zu können, und der Überzeugung, eine hoffnungslose Ignorantin zu sein.
Die anderen Studenten bewunderten Sarah, weil sie ihre stets präzisen und verständlichen Mitschriften bereitwillig weitergab und nicht sparte mit Lob und Ermunterung. Sie war bescheiden, aber begeisterungsfähig, kontaktfreudig, aber unbestreitbar klug. Manchmal schlief sie mit ihren Kommilitonen, manchmal auch mit Assistenten oder Dozenten, doch das war ihrer Popularität weder hinderlich noch förderlich. Hier zumindest war Sex zum Stressabbau, zum Feiern oder als Mittel gegen Langeweile etwas ganz Normales. Das war ein weiterer Grund, warum Sarah so an ihrem Studium hing.
Am liebsten wäre sie für immer an der Universität geblieben. Lernen, unterrichten, denken, reden, ficken. Im Sommer unter dem Gummibaum hinter dem
naturwissenschaftlichen Trakt schlafen und im Winter auf dem durchgesessenen grünen Sofa im Literatur-Aufenthaltsraum. Schlechten Kaffee und billiges Bier trinken, Erdnüsse und Joe Ds Haschischplätzchen mit Schokosplittern essen. Sie hatte noch sechs Monate bis zum B.A. dann kam das Abschlussjahr, und danach wusste sie noch nicht, wie es weiterging. Obwohl fast alle ihre Bekannten sagten, dass sie bestimmt Großes vollbringen würde, schien niemand – Sarah eingeschlossen – zu wissen, was das bedeutete.
Wie auch immer, sie war auf jeden Fall entschlossen, nicht die Erwartungen anderer zu erfüllen. Je nachdem, an wen man die Frage richtete, lauteten diese Erwartungen: dass sie schwanger wurde und von der Sozialhilfe leben musste; dass sie zur verwöhnten Geliebten eines reichen Geschäftsmanns wurde; dass sich ihre heftigen Trinkgewohnheiten zu echtem Alkoholismus auswachsen und sie mit einer leeren Spirituspulle in der Kralle im Rinnstein enden würde; dass ihr gelegentliches Herumspielen mit verbotenen Substanzen allmählich überhand
Weitere Kostenlose Bücher