Zaehme mich
liebte sie. Sie erinnerte sich, wie es sie immer erregt hatte, wenn er beim Unterricht mit den Händen in die Luft geboxt oder mit den Fingern kleine Kreise gezeichnet hatte, um das Gesagte zu veranschaulichen. Sie liebte es, dass ihre Mitschüler diese Hände beobachteten, die doch alle Geheimnisse unter ihren Kleidern kannten. Und Sarah kannte seine Geheimnisse. Jede Sehne, jedes Muttermal, jeden Muskel, die sich unter seinem Anzug verbargen, nur dass es damals kein Anzug war, sondern Jeans, T-Shirt und eine schwarze Lederjacke, die Sarah manchmal auf der Heimfahrt anziehen durfte.
Es war eine unerträgliche Vorstellung für sie, dass er sich mit den Jahren auf eine Weise verändert haben könnte, die nichts mit seiner Garderobe zu tun hatte. Dass er vielleicht Falten oder Sommersprossen hatte, die sie noch nicht kannte, dass seine Muskeln möglicherweise schlaffer oder straffer geworden waren. Hatte er zugenommen? Schwer zu sagen bei den vielen Sachen, die er anhatte. Doch seine Taille kam ihr ein wenig stärker vor als die, die sie mit ihren Armen umschlungen hatte. Er konnte irgendwo eine neue Narbe haben wie die auf ihrem Rücken. Am liebsten hätte sie einen Scheinwerfer auf ihn gerichtet und jeden Zentimeter seines Körpers gekostet, berührt, gezwickt.
»Du bist mit den Gedanken schon wieder woanders.« Er drückte ihre Hände fester als nötig, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Mein Gott, auch daran erinnerte sie sich. Die Gewalt, die von diesen Händen ausging. Die Tendenz, mehr Kraft anzuwenden, wenn weniger auch gereicht hätte. Die beiläufige Grausamkeit, mit der er kniff, keilte oder kratzte. Sein Vergnügen daran, wenn sie weinte und bettelte. Ihr fiel ein, dass er sie bei ihrer letzten Begegnung beinahe umgebracht hätte. Sie wusste nicht mehr, was sie ihren Eltern vorgeschwindelt hatte, als sie in diesem Zustand nach Hause gekommen war; sie erinnerte sich nur noch an ihren Schmerz, als ihr Körper wieder heil und mit dem letzten blauen Fleck jede Spur seiner Liebe verloschen war.
»Sarah?« Sein Griff wurde so fest, dass sie zusammenzuckte. »Du machst mich nervös. Sag doch was.«
»Du zerquetschst mir die Hände.«
»Oh!« Er ließ sie los, doch dann fasste er sie schnell wieder und strich ihr mit den Fingern über die Knöchel. »Ich hatte ganz vergessen, was du für zarte Knochen hast. Ich muss wirklich aufpassen, dass ich dich nicht zerbreche.«
Zu spät, dachte Sarah. »Kannst du mich nach Hause fahren?«
Daniel führte sie hinaus zum Parkplatz. »Seit ich wieder in Sydney bin, habe ich versucht, dich ausfindig zu machen.«
Er öffnete die Tür eines silbernen BMWs und brachte sie zur Beifahrerseite. »Du bist von daheim ausgezogen.«
»Ja.«
»Und du stehst nicht im Telefonbuch.«
»Du auch nicht.«
Er lächelte. »Ein Schuldirektor ist die ideale Zielscheibe für Spaßanrufe. Und was hast du für eine Ausrede?«
»Ich lege Wert auf meine Privatsphäre.«
»Verstehe. Ist das der Grund, warum du so zurückhaltend bist?«
»Das ist keine Zurückhaltung, sondern Schock. Und auch ein bisschen Angst.«
Er redete erst wieder, als sie unterwegs waren. »Hab ich dir einen solchen Schrecken eingejagt?«
Sarah wandte sich ihm zu, um ihm zu antworten, doch dann kam sie wieder ins Sinnieren. Was an ihm faszinierte sie so, dass sie den Blick nicht abwenden konnte? Er war eigentlich nicht gutaussehend – nicht wenn man unter gutaussehend diese braungebrannten, schwermütigen Seifenoperntypen mit aufgedunsenen Lippen und finsteren Augen verstand. Bei ihrer ersten Begegnung war ihr eine Ähnlichkeit zu Billy Idol aufgefallen, weil sein Haar blond und stachelig war und weil er eine schwarze Lederjacke trug.
Doch das war nur ein erster Eindruck gewesen. Aus der Nähe betrachtet sah er überhaupt nicht mehr wie Billy Idol aus. Er sah aus wie niemand sonst. Auch wenn die meisten Leute ganz anderer Meinung waren, weil er sie mit seinem Gesicht, seinem Körper und seinen Bewegungen an Filmstars oder Rocksänger erinnerte.
»Mein Gott, jetzt bist du vor lauter Schreck verstummt.«
»Irgendwie schon. Wenn wir zusammen sind, verliere ich die Bodenhaftung. Ich gleite in Fantasien ab. Ich weiß nicht mehr, wer ich bin. Das macht mir Angst.«
»Weißt du, was mir Angst macht?« Nach einem kurzen Seitenblick konzentrierte sich Daniel wieder auf die Straße.
»Die Vorstellung, dass ich mich den Rest meines Lebens so elend fühlen werde wie die letzten acht Jahre. Dass ich den Rest meines
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