Zähmung der Wildkatze
völlig unter und gerät unter die Räder.“ Marie drehte sich seitlich zu ihm und betrachtete sein Gesicht.
„Der Mann da drin ist immer mein Vorbild gewesen. Er war witzig, liebevoll, warmherzig, gutmütig und brillant. Sein Gedächtnis war einzigartig und seine Ideen hätten die Welt verändern können. Mein Vater hatte nie die Chance, auf ein College zu gehen, aber er besaß eine Wissbegier, dieihn Bücher reihenweise verschlingen ließ. Er hat mir das Lesen beigebracht, als ich gerade vier war. Er war immer so stark und die einzige Schwäche, die er besaß, war meine Mutter. Als sie ging, ist er zusammengebrochen. Sie war seine große Liebe und hat ihn fallen gelassen. Danach war alles nur noch ein Albtraum. Wenn ich nicht schnell gelernt hätte, hart zu sein, wäre ich daran kaputt gegangen. Ich liebe ihn und ich habe nicht einen Tag bereut, aber er hat aufgegeben, nachdem sie gegangen ist. Allein zu kämpfen gegen so einen Gegner ist unmöglich.“ Sie schniefte leise und wehrte sich gegen die heißen Tränen, die in ihre Augen stiegen. „Ich bin, wie ich bin, weil ich so sein muss. Anders würde ich das nicht überleben.“
Stuart startete den Motor und fuhr los. Das Schweigen zwischen ihnen wirkte angespannt.
Marie wandte ihren Kopf ab, um ihm nicht zu zeigen, wie enttäuscht sie war. Als er vor dem Apartmentgebäude hielt, in dem sie lebte, griff sie hastiger als gewollt nach dem Türgriff. Stuart hielt sie zurück.
„Du hast meine Frage noch gar nicht gehört.“
Abermals schnaubte sie, als ob das noch einen Unterschied machen würde.
„Schieß los.“
Stuart lehnte sich schmunzelnd zu ihr und nahm ihr Abrücken billigend zur Kenntnis. Sanft schob er seine Fingerspitzen unter ihr Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. „Hattest du heute Nacht das Gefühl, flüchten zu müssen?“
Verwirrt erwiderte sie seinen Blick und schüttelte den Kopf. „Nein, das hatte ich nicht.“
„Gut.“ Er küsste ihre Stirn, stieg aus und öffnete die Beifahrertür für sie.
„Ich möchte dich morgen Abend sehen. Wir sollten dringend reden. Ich hole dich nach Feierabend beim Laden ab und es wird keine Spiele geben, nur wir beide, ein Abendessen und Wein.“
„Warum nicht jetzt?“
Er lächelte zärtlich und begleitete sie zur Tür. „Du bist viel zu aufgewühlt. Gute Nacht, Marie.“
Als Stuart in den Wagen stieg und wegfuhr, sah Marie ihm nach. Langsam setzte ihr Verstand wieder ein und sie lachte leise. Er hatte recht. Seine Nähe war ihre Sicherheit gewesen, keine Notwenigkeit, fliehen zu müssen, flüchten zu wollen. Sie fühlte sich bei ihm geborgen, wie es bisher in ihrem Leben nur ein Mann geschaffte hatte.
16
Gut gelaunt stieg Marie am nächsten Morgen unter die heiße Dusche und summte einen Ohrwurm aus dem Radio, der sie geweckt hatte. In ihren Lieblingsbademantel gewickelt und mit Tigerpantoffeln an den Füßen machte sie es sich auf dem Sofa vor dem Fernseher mit einer Schale Müsli und Milchkaffee gemütlich. In den Nachrichten wurden die letzten Horrormeldungen der Wirtschaftskrise erörtert und die anderen Programme langweilten mit nervigen Talkshows. Marie löffelte lächelnd in ihrem Frühstück, ohne davon zu essen, während ihre Gedanken zu dem vergangenen Abend schweiften. Einige blaue Flecken von den Hieben der Lederklatsche waren heute deutlicher sichtbar als in der Nacht zuvor. Aber es war nicht wirklich das BDSM-Spiel mit Master Alexander, das einen bleibenden Eindruck hinterlassen hatte. Es war der Kuss. Selbst bei der Erinnerung lief ihr ein wohliger Schauder den Rücken hinunter und kribbelte an den sensiblen Punkten in ihrem Körper. Verdammt, dieser Mann wusste ganz genau, wie man eine Frau küsste und Marie fragte sich ernsthaft, wo er das gelernt hatte.
Bevor sie den Gedanken weiter verfolgen konnte, meldete sich ihr neues Telefon schrill und laut und sie zuckte wie ertappt zusammen.
„Hallo Marie, wo warst du gestern Abend?“
Wie gut, dass es kein Bildtelefon war, denn bei Ericas Nachfrage wäre Marie am liebsten in einem Erdloch verschwunden. Sie hatte völlig verschwitzt, dass sie eigentlich mit der besten Freundin verabredet gewesen war.
„Mist, das tut mir leid. Mir ist etwas, ähm, dazwischengekommen.“ Über die Doppeldeutigkeit ihrer Antwort musste sie unweigerlich grinsen.
„Du hättest anrufen können, ich hab fast zwei Stunden im Logans mit Cocktails auf dich gewartet. Was war denn so wichtig, dass du mich versetzt hast? Das kenn ich gar nicht von dir,
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