Zaehne und Klauen
im Regen herum, um die übereifrigen Knoten zu lösen, bis ich die Leiter herunterheben und sie zur Rückseite des Gebäudes zerren konnte. Ich war betrunken, ja, aber auch vorsichtig – wenn mich jemand gesehen hätte, in der Dunkelheit, wie ich eine Leiter an ein Wohnhaus stellte, wenn es auch mein eigenes Wohnhaus war, hätte die Lage schnell schwierig werden können. Ich konnte wohl schlecht behaupten, dass ich anstreichen wollte. Nicht nachts. Nicht im Regen. Glücklicherweise sah mich niemand. Ich stieg die Leiter hinauf, und als ich auf Höhe meines Schlafzimmers war, schlug mir der Gestank entgegen, ein ekelhafter Fäkalienwind drang aus dem dunklen Fensterschlitz. Die Katze. Die Katze war da drin und beobachtete mich. Davon war ich überzeugt. Ich muss eine Viertelstunde oder länger im Regen auf der Leiter gestanden haben, bevor ich den Mumm aufbrachte und das Fenster hastig ganz aufschob, dann zog ich den Kopf ein und drückte mich reflexartig an die Mauer. Nichts geschah. Kurz darauf stieg ich die Leiter hinunter.
Ich wollte nicht in die Wohnung, wollte nicht darüber nachdenken, wusste nicht, ob eine Katze dieser Größe die Sprossen einer Leiter hinuntersteigen oder sechs Meter tief springen oder ihre verborgenen Flügel ausbreiten und davonfliegen konnte. Eine Zeitlang stand ich da und betrachtete das tiefschwarze Loch des Fensters, dann kehrte ich zu meinem Wagen zurück und hörte im Dunkeln Radio, bis ich einschlief.
Am Morgen – es gab keine heraldischen Sonnenstrahlen, keineswegs, es regnete noch immer – ging ich in die Wohnung und schlich so leise, als wäre ich ein Einbrecher, zur Schlafzimmertür. Ich schaute durchs Guckloch und sah einen Berg Teppichboden um den leeren Käfig aufgehäuft – ein Bau, ein provisorischer Bau –, und da erst begann ich etwas für die Katze zu empfinden, konnte ihre Verwirrung nachempfinden, ihre Angst vor der fremden Umgebung, ihr Misstrauen: Das war keine felsige Landschaft, das war mein Schlafzimmer im ersten Stock eines heruntergekommenen Wohngebäudes in einer Stadt am Meer, einen ganzen Kontinent und einen abgrundtiefen Ozean von ihrer Heimat entfernt. Nichts rührte sich. Bestimmt war sie verschwunden, ein weiter Sprung, der Aufprall der Beine, Gras unter den Pfoten, feste Erde. Sie war weg. Bestimmt. Ich stählte mich innerlich, öffnete die Tür und trat ein. Und dann – ich weiß nicht, warum – schloss ich die Tür hinter mir.
T.C. Boyle
T. Coraghessan Boyle, 1948 in Peekskill, N.Y., geboren, unterrichtet an der University of Southern California in Los Angeles. Bei Hanser erschienen zuletzt Willkommen in Wellville (Roman, 1993), América (Roman, 1996), Riven Rock (Roman, 1998), Fleischeslust (Erzählungen, 1999), Ein Freund der Erde (Roman, 2001), Schluß mit cool (Erzählungen, 2002), Drop City (Roman, 2003), Dr. Sex (Roman, 2005), Talk Talk (Roman, 2006), Zähne und Klauen (Erzählungen, 2008), Die Frauen (Roman, 2009) und Das wilde Kind (Erzählung, 2010).
Daten, Fakten, Jahreszahlen
1948 geboren in Peekskill, New York
T.C. Boyle wuchs in schwierigen Familienverhältnissen auf.
Nach ausschweifenden Jugendjahren in der Hippie-und Protestbewegung der 60er Jahre war Boyle Lehrer an der High School in Peekskill und publizierte während dieser Zeit seine ersten Kurzgeschichten in namhaften Zeitschriften.
Heute lebt er mit seiner Frau und drei Kindern in Kalifornien und unterrichtet an der University of Southern California “Creative Writing”.
Bibliographie
Im Carl Hanser Verlag sind erschienen
1989 World’s End. Roman. Aus dem Amerikanischen von Werner Richter
1991 Wenn der Fluß voll Whiskey wär. Erzählungen. Aus dem Amerikanischen von Werner Richter
1992 Der Samurai von Savannah. Roman. Aus dem Amerikanischen von Werner Richter
1993 Willkommen in Wellville. Roman. Aus dem Amerikanischen von Anette Gruber
1995 Tod durch Ertrinken. Erzählungen. Aus dem Amerikanischen von Anette Gruber
1996 América. Roman. Aus dem Amerikanischen von Werner Richter
1998 Riven Rock. Roman. Aus dem Amerikanischen von Werner Richter
1999 Fleischeslust. Erzählungen. Aus dem Amerikanischen von Werner Richter
2001 Ein Freund der Erde. Roman. Aus dem Amerikanischen von Werner Richter
2002 Schluss mit cool. Erzählungen. Aus dem Amerikanischen von Werner Richter
2003 Drop City. Roman. Aus dem Amerikanischen von Werner Richter
2005 Dr. Sex. Roman. Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren
2006 Talk Talk. Roman. Aus dem Amerikanischen von Dirk van
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