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Zaertlich ist die Nacht

Zaertlich ist die Nacht

Titel: Zaertlich ist die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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kehrte er in den Raum zurück, setzte sich an den großen Schreibtisch und spielte scheinbar nachdenklich mit seiner Post. Dabei dachte er in Wirklichkeit gar nicht nach, sondern suchte wie die meisten Menschen nur nach einer passenden Maskierung für das, was er sagen wollte.
    |388| »Dick, ich weiß sehr wohl, dass du ein maßvoller, ausgeglichener Mensch bist, obwohl wir über das Thema Alkohol nicht ganz einer Meinung sind. Aber irgendwann kommt die Zeit   – Dick, ich muss dir offen sagen, dass ich des Öfteren bemerkt habe, dass du etwas getrunken hattest, wenn es ganz unpassend war. Dafür muss es einen Grund geben. Willst du nicht noch einmal Urlaub nehmen?«
    »Urlaub?«, sagte Dick. »Urlaub ist keine Lösung.«
    Sie waren jetzt beide erhitzt. Franz ärgerte sich, dass ihm seine Rückkehr verdorben wurde.
    »Manchmal gebrauchst du einfach nicht deinen gesunden Menschenverstand, Dick.«
    »Was der gesunde Menschenverstand bei komplizierten Problemen nutzen soll, habe ich nie verstanden. Das müsste ja bedeuten, dass ein Hausarzt besser operiert als ein Chirurg.« Ein heftiger Abscheu vor der ganzen Situation überwältigte Dick. Erklären müssen, wieder zusammenflicken müssen   – das waren keine natürlichen Tätigkeiten in ihrem Alter   – da war es schon besser, mit dem zerbrochenen Echo einer alten Wahrheit weiterzumachen.
    »So geht das nicht weiter«, sagte Dick plötzlich.
    »Ja, das habe ich auch schon gedacht«, gab Franz zu. »Du bist nicht mehr mit ganzem Herzen dabei, Dick.«
    »Ich weiß. Ich will weg   – wir könnten vielleicht ein Arrangement treffen, um Nicoles Geld schrittweise herauszuziehen.«
    »Ich habe darüber schon nachgedacht, Dick   – ich habe diese Situation kommen sehen. Ich habe eine andere finanzielle Lösung gefunden   – ihr könntet euer gesamtes Geld bis Ende des Jahres zurückhaben.«
    Dick hatte keineswegs vorgehabt, so rasch zu einer Entscheidung zu kommen, und er war keineswegs darauf gefasst |389| gewesen, dass Franz einer Trennung so bereitwillig zustimmen würde, dennoch war er erleichtert. Nicht ohne Verzweiflung hatte er schon seit Langem gespürt, dass die Ethik seines Berufs sich in eine leblose Angelegenheit für ihn zu verwandeln begann.

4
    Die Divers beschlossen, an die Riviera zurückzukehren, die sie als ihre Heimat empfanden. Allerdings hatten sie die Villa Diana den Sommer über vermietet und mussten die Zwischenzeit in deutschen Kurorten und französischen Kathedralenstädten verbringen, wo sie aber immer ein paar Tage glücklich waren. Dick schrieb ein wenig, allerdings eher unsystematisch; es war eine Zeit des Wartens in seinem Leben; dabei ging es weder um die Gesundheit Nicoles, die sich auf Reisen immer recht wohlfühlte, noch um seine Arbeit, sondern einfach nur darum zu warten. Der einzige Faktor, der dieser Zeit eine gewisse Richtung gab, waren die Kinder.
    Sie waren jetzt acht und sechs, und je älter sie wurden, desto mehr interessierte Dick sich für sie. Es gelang ihm, sie über die Köpfe der Angestellten hinweg zu erreichen, weil er das Prinzip verfolgte, dass weder Zwangsmaßnahmen noch die Angst vor Zwangsmaßnahmen ein geeigneter Ersatz für lange, sorgfältige Aufmerksamkeit und eine ordentliche Buchführung über die Rechte und Pflichten der Kinder sein konnten. Er lernte sie weit besser kennen als Nicole sie kannte, und wenn er nach dem Genuss der Weine aus verschiedenen Ländern besonders gut gelaunt war, redete und spielte er ausgiebig mit ihnen.
    |390| Sie besaßen den schwermütigen, beinahe traurigen Charme der Kinder, die früh gelernt haben, nicht hemmungslos zu lachen oder zu weinen; sie schienen keine extremen Gefühle zu kennen, sondern mit den einfachen Regeln und einfachen Freuden zufrieden zu sein, die man ihnen erlaubte. Sie lebten im Rahmen der gemäßigten Grundhaltung, die sich in den alten Familien der westlichen Welt seit Langem bewährt hat, sie wurden erzogen und nicht vorgeführt. So war Dick zum Beispiel der Ansicht, dass nichts die Beobachtungsgabe so schulte wie ein erzwungenes Schweigen.
    Lanier war ein unberechenbarer Junge mit übermenschlicher Neugier. »Wie viele Hunde würde man brauchen, um einen Löwen fertigzumachen, Vater?« Das war so eine von den typischen Fragen, mit denen er Dick heimsuchte. Topsy war einfacher, sie war sechs, sehr blond, mit einem fein geschnittenen Gesicht wie Nicole, und in der Vergangenheit hatte Dick sich deswegen Sorgen gemacht. Aber neuerdings war sie so

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