Zaertlich ist die Nacht
nicht der Erste, der vom Totenbett aufsteht. Weißt du, es ist wie bei einer alten Uhr, die aus bloßer Gewohnheit wieder zu ticken anfängt, wenn man sie schüttelt. Also dein Vater –«
»Ach, ich will’s gar nicht wissen«, sagte sie.
»Seine Hauptantriebskraft war die Angst«, fuhr er fort. »Er hat Angst gekriegt und ist abgehauen. Wahrscheinlich lebt er bis neunzig –«
»Bitte erzähl mir nichts weiter«, sagte sie. »Bitte nicht – ich könnte es nicht ertragen.«
»In Ordnung. Der kleine Teufel, den ich mir hier ansehen sollte, ist ein hoffnungsloser Fall. Wir können genauso gut morgen wieder nach Hause fahren.«
»Ich weiß nicht, warum du dich mit all diesen Dingen – abgeben musst«, platzte sie plötzlich heraus.
»Ach, wirklich? Manchmal weiß ich das auch nicht.«
Rasch legte sie ihre Hand auf seine. »Es tut mir leid, dass ich das gesagt habe, Dick.«
Jemand hatte ein Grammofon mit in die Bar gebracht, und sie saßen da und hörten dem ›Wedding of the Painted Doll‹ zu.
|383| 3
Eine Woche später wollte Dick morgens gerade seine Post am Empfang der Klinik abholen, als er einen ungewöhnlichen Aufruhr vor der Tür wahrnahm: Von Cohn Morris, ein junger australischer Patient reiste ab. Seine Eltern luden sein Gepäck in eine mächtige Limousine, während Doktor Ladislau daneben stand und mit hilflosen Handbewegungen gegen die heftigen Gebärden von Morris senior protestierte. Der junge Mann selbst betrachtete seine Einschiffung mit abgeklärtem Zynismus, als Doktor Diver sich näherte.
»Ist das nicht ein wenig überraschend, Mr Morris?«
Morris schrak zusammen, als er Dick erkannte – sein rotes Gesicht und die großen Karos auf seinem Anzug schienen an und aus zu gehen wie elektrische Lampen. Er ging auf Dick los, als ob er ihn schlagen wolle.
»Es ist höchste Zeit, dass wir hier weggehen, Doktor Diver! Wir und alle, die mit uns gekommen sind«, sagte er und musste erst einmal Luft holen. »Es ist höchste Zeit, Doktor Diver. Höchste Zeit.«
»Sollen wir vielleicht in mein Büro gehen?«, schlug Dick vor.
»Ich denke nicht daran! Ich will nichts mehr mit Ihnen und Ihrer Klinik zu tun haben!«
»Tut mir leid, das zu hören.«
Morris wedelte mit seinem Finger vor Dick herum. »Ich habe gerade diesem Herrn hier gesagt, dass wir unsere Zeit und unser Geld bei Ihnen verschwendet haben.«
Doktor Ladislau machte schwache Abwehrbewegungen, |384| die unbestimmte slawische Ausflüchte andeuteten. Dick hatte Ladislau nie leiden können. Es gelang ihm, den erregten Australier in Richtung seines Büros zu bugsieren, aber als er versuchte, ihn zum Eintreten zu bewegen, schüttelte der Mann den Kopf.
»Sie sind doch das Problem, Doktor Diver, gerade
Sie!
Ich bin nur deshalb zu Doktor Ladislau gegangen, weil Sie nicht zu finden waren und weil Doktor Gregorovius nicht vor heute Abend zurückkommt. Solange wollte ich nicht mehr warten.
No, Sir!
Ich wollte keine Minute mehr warten, nachdem mein Sohn mir die Wahrheit gesagt hat.«
Bedrohlich kam er auf Dick zu, der seine Hände ganz locker hielt, um den Mann notfalls niederschlagen zu können. »Mein Sohn ist wegen seines Alkoholismus hier, und er hat mir erzählt, dass er Schnaps in Ihrem Atem gerochen hat.
Yes, Sir!
« Er schnupperte hastig, aber erfolglos an Dick. »Mein Sohn hat nicht nur einmal, sondern zweimal Schnaps bei Ihnen gerochen, sagt er. Ich und meine Frau haben unser Lebtag keinen Tropfen Alkohol angerührt. Wir haben Ihnen unseren Sohn anvertraut, damit Sie ihn heilen, und dann riechen Sie zweimal in einem Monat nach Schnaps! Was ist das für eine Art der Behandlung?«
Dick zögerte; Morris war durchaus in der Lage, eine Riesenszene vor der Klinik zu machen. »Nun ja«, sagte er, »nicht jeder wird wegen Ihres Sohnes gleich jedes Nahrungsmittel aufgeben, Mr Morris –«
»Aber Sie sind Arzt, Mann!«, schrie Morris erbost. »Wenn die Bauarbeiter mal ein Bier trinken, dann ist das ihr Pech, aber Sie sollen die Menschen doch heilen –«
»Das geht jetzt zu weit. Ihr Sohn ist wegen seiner Kleptomanie zu uns gekommen.«
»Und was steckte dahinter?« Der Mann kreischte jetzt |385| beinahe. »Die Sauferei – übelste, schwärzeste Sauferei. Wissen Sie überhaupt noch, welche Farbe Schwarz hat? Schwarz ist schwarz! Mein eigener Onkel ist deswegen aufgehängt worden, verstehen Sie? Mein Sohn kommt in ein Sanatorium und sein Arzt stinkt nach Schnaps!«
»Ich muss Sie jetzt bitten zu
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