Zaertlich ist die Nacht
noch schwieriger. Nicole wusste nie, ob er sie zerschmettern oder noch einmal verschonen würde. Sie hatte keine Ahnung, was er nach dem qualvoll langsamen Entrollen der Geschichte tun – und was am Ende, im Augenblick des Absprungs, geschehen würde.
Vor dem, was danach kam, hatte sie keine Angst. Sie ahnte vielmehr, dass eine Last von ihr genommen und ihre Augen geöffnet würden. Nicole war für Veränderungen und Flucht wie geschaffen, und ihre Flügel und Flossen waren das Geld. Der neue Zustand bedeutete nur, dass unter der Karosserie einer Familienkutsche endlich das Fahrgestell eines Rennwagens wieder ans Licht kommen würde, das jahrelang verborgen gewesen war. Nicole spürte jetzt schon den frischen Wind – nur den Schraubenschlüssel fürchtete sie und die dunkle Art seiner Anwendung.
Die Divers traten auf den Strand hinaus, und ihre weißen Badeanzüge leuchteten weiß auf der braunen Haut ihrer Körper. Nicole sah Dick dabei zu, wie er unter den Formen und Schatten der Sonnenschirme Ausschau hielt nach den Kindern. Aber als sein Denken sie einen Moment lang unbewacht ließ und nicht umfasste, sah sie ihn mit etwas Abstand. ›Er sucht die Kinder nicht, um sie zu schützen‹, dachte sie, ›sondern weil
er
ihren Schutz sucht.‹ Vielleicht hatte er Angst vor dem Strand, so wie ein abgesetzter |425| Herrscher, der heimlich seinen alten Hof besucht. Inzwischen hasste sie seine Welt mit ihren feinsinnigen Scherzen und Höflichkeiten – und vergaß dabei, dass es für viele Jahre die einzige Welt gewesen war, die ihr offenstand. Sollte er nur hinsehen – sollte er sich seinen Strand ansehen, der jetzt verschandelt worden war nach dem Geschmack der Geschmacklosen. Er hätte den ganzen Tag suchen können und keinen Stein mehr von der Chinesischen Mauer gefunden, die er einst errichtet hatte, um ihn zu schützen, und keine Fußspur von alten Freunden im Sand.
Einen Moment lang tat es Nicole leid; sie dachte an die Scherben, die er aus dem früher so schmutzigen Strand gerecht hatte, an die weiten Hosen und Matrosenhemden, die sie in einer Gasse in Nizza gekauft und die später bei den Couturiers in Paris Karriere gemacht hatten, an die kleinen französischen Mädchen, die auf den Wellenbrecher geklettert waren und wie Vögelchen schrien:
»Dis donc! Dis donc!«
Sie dachte an das Morgenritual, die stille, erholsame Öffnung gegenüber dem Meer und der Sonne, und sie dachte an die vielen Erfindungen, die er gemacht hatte und die jetzt tiefer unter den letzten Jahren vergraben waren als unter dem Sand.
Der Strand war jetzt ein »Club«, obwohl man nicht recht sagen konnte, wer nicht zugelassen worden wäre – genau wie bei der internationalen Gesellschaft, die er repräsentierte.
Nicole verhärtete sich wieder, als Dick sich auf die Strohmatte kniete und nach Rosemary umsah. Ihre Augen folgten seinem Blick, die zwischen den neuen Attraktionen herumirrten, den Trapezen und Ringen über dem Wasser, den tragbaren Umkleidekabinen, dem schwimmenden |426| Sprungturm, den Party-Scheinwerfern vom gestrigen Abend, dem modernistischen weißen Büfett, das mit einer endlosen Kette von Fahrradlenkern bemalt war.
Das Wasser war der letzte Ort, wo er nach Rosemary suchte, denn es schwamm kaum noch jemand in diesem blauen Paradies, wenn man von den Kindern und einem exhibitionistischen Hoteldiener absah, der den Morgen mit seinen spektakulären Sprüngen von einem fünfzig Fuß hohen Felsvorsprung akzentuierte. Die meisten Hotelgäste streiften ihre Strandanzüge nur gegen ein Uhr mittags von ihren schlaffen Gliedern, um ihre Mattigkeit mit einem kurzen Bad zu vertreiben.
»Da ist sie«, stellte Nicole fest.
Sie sah zu, wie ihr Mann Rosemarys Bahn von einem Floß zum anderen verfolgte; aber der Seufzer, der sich ihrem Busen entrang, war nur noch ein schwaches Überbleibsel der Situation vor vier Jahren.
»Lass uns zu ihr hinausschwimmen und mit ihr reden«, schlug er vor.
»Mach du das.«
»Wir schwimmen beide.« Sie wehrte sich einen Augenblick gegen diese Entscheidung, aber dann schwammen sie tatsächlich beide hinaus und verfolgten Rosemarys Spur anhand der kleinen Fische, die hinter ihrem glänzenden Körper her waren wie hinter dem Blinker der Angel.
Nicole blieb im Wasser, während Dick sich neben Rosemary auf das Floß hievte, wo sie nebeneinandersaßen und redeten, als ob sie sich nie berührt und geliebt hätten. Das junge Mädchen war schön – ihre Jugend war ein Schock für Nicole,
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