Zaertlich ist die Nacht
eine aufgeregte Diskussion über gar nichts gegeben hatte.
Der Chauffeur erschien an der Tür, mit einer Reisetasche, die Tommys Kleider von gestern Abend enthielt. Dass Tommy sich einen Anzug von Dick geliehen hatte, berührte Nicole. Es schien irgendwie traurig und falsch, so als könnte Tommy sich solche Kleider nicht leisten.
»Wenn du ins Hotel kommst, musst du dir den Hals und die Brust damit einreiben«, sagte sie. »Dann inhalierst du die Dämpfe.«
»Sag mal«, murmelte Dick, als Tommy die Treppe hinunterging, »du brauchst doch Tommy nicht gleich die ganze Dose zu geben. Das muss man in Paris bestellen – hier unten gibt’s das nicht.«
Als Tommy wieder in Hörweite war, standen sie zu dritt in der Sonne. Tommy wirkte so breit vor dem Wagen, dass man denken konnte, er wolle ihn Huckepack nehmen.
Nicole trat auf den Weg hinunter. »Fang!«, rief sie. »Das Zeug ist sehr kostbar.«
Sie spürte, wie Dick neben ihr stumm wurde, machte einen Schritt von ihm weg und winkte, als der Wagen mit Tommy und der teuren Erkältungssalbe davonfuhr. Dann machte sie kehrt, um ihre eigene Medizin entgegenzunehmen.
»Das war absolut unnötig«, sagte Dick. »Wir sind vier |422| Leute hier, und jedes Mal, wenn jemand eine Erkältung hat, haben wir –«
Sie sahen sich an.
»Wir können ja neue kaufen –« Dann verlor sie die Nerven und folgte ihm brav ins obere Stockwerk, wo er sich auf sein Bett legte und nichts mehr sagte.
»Soll ich dir das Mittagessen raufbringen lassen?«, fragte sie.
Er nickte, lag weiterhin schweigend da und starrte die Decke an. Unschlüssig ging sie nach unten und erteilte entsprechende Anweisungen. Dann stieg sie wieder hinauf und schaute erneut in sein Zimmer – die blauen Augen glitten wie Scheinwerfer durch einen nächtlichen Himmel. Sie blieb fast eine Minute im Türrahmen stehen, war sich völlig der Sünde bewusst, die sie gegen ihn begangen hatte, und hatte fast Angst einzutreten …
Sie streckte die Hand aus, als ob sie ihm den Kopf streicheln wollte, aber er wandte sich ab wie ein misstrauisches, ängstliches Tier. Nicole konnte die Situation nicht länger ertragen; in einer Küchenmädchenpanik lief sie wieder hinunter und fragte sich, was der Geschlagene da oben essen sollte, von dessen magerer Brust sie sich weiterhin würde nähren müssen.
Eine Woche später hatte Nicole ihre Fantasien über Tommy vergessen – sie hatte kein großes Gedächtnis für Leute und dachte nie lange an sie. Aber in der ersten Junihitze hörte sie, dass er in Nizza sei.
Er hatte ihnen beiden ein kleines Briefchen geschrieben – und sie öffnete es unter dem Sonnenschirm, zusammen mit der übrigen Post, die sie aus dem Haus mitgebracht hatten. Nachdem sie es gelesen hatte, warf sie es Dick zu, und im |423| Austausch warf er ihr ein Telegramm in den Schoß ihres Strandanzugs:
IHR LIEBEN WERDE MORGEN BEI GAUSSE SEIN LEIDER OHNE MUTTER RECHNE FEST DAMIT EUCH ZU SEHEN. ROSEMARY
»Ich freue mich auch darauf, sie zu sehen«, sagte Nicole grimmig.
7
Dennoch ging sie am nächsten Tag voller Angst an den Strand, dass Dick irgendeine verzweifelte Lösung anstreben könnte. Seit dem Abend auf Goldings Jacht spürte sie, dass etwas vorging. Sie befand sich in einer so delikaten Balance zwischen dem festen Halt, der bis dato ihre Sicherheit garantiert hatte, und einem unmittelbar bevorstehenden Sprung, aus dem sie mit einer völlig veränderten Chemie von Blut und Muskeln hervorgehen musste, dass sie es nicht gewagt hatte, die Angelegenheit in den Vordergrund ihres Bewusstseins dringen zu lassen. Sie und Dick waren jetzt unbestimmte, im Wandel begriffene Gestalten, die einen gespenstischen Tanz tanzten. Seit Monaten schien jedes Wort den Unterton einer anderen Bedeutung zu haben, die sich allerdings erst unter Umständen zeigen würde, die allein Dick bestimmte.
Obwohl dieser Geisteszustand einige Chancen bereithielt, war er doch höchst beunruhigend. Die langen Jahre ihres bloßen Daseins hatten einen belebenden Effekt auch auf jene Teile von Nicoles Wesen gehabt, die von der frühen |424| Krankheit gelähmt worden waren und die selbst Dick nicht erreicht hatte, weil nun einmal kein Mensch sich bis in den letzten Winkel eines anderen ausbreiten kann.
Der bedauerlichste Aspekt ihrer Beziehung war jetzt Dicks zunehmende Gleichgültigkeit, die ihren Ausdruck in seinem ständigen Alkoholkonsum fand. 1* Dicks Stimme, die ständig vor Ironie zitterte, machte die Dinge
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