Zaertlich ist die Nacht
Nicole. »Das war natürlich der Grund, warum sie so komisch zu mir war – sie hat sich darauf vorbereitet zu schießen.«
Sie lachte, und Rosemary lachte auch, dabei waren sie beide entsetzt und beide wollten, dass Dick einen moralischen Kommentar zu der Angelegenheit abgab und es ihnen nicht überließ, was sie denken sollten. Dieser Wunsch |133| war ihnen nicht ganz bewusst, besonders Rosemary nicht, die es zwar gewohnt war, dass die Granatsplitter solcher Ereignisse ihr an den Ohren vorbeijaulten, aber trotzdem zutiefst erschrocken war. Im Augenblick war Dick allerdings zu erschüttert von seiner Entdeckung über die Beziehung zu Rosemary, als dass es ihm gelungen wäre, die Ereignisse in sein »Parisprogramm« einzubauen, und so verfielen die Frauen, weil sie etwas vermissten, in unbestimmte Traurigkeit.
Dann aber strömte das Leben der Divers und ihrer Freunde, als ob nichts gewesen wäre, hinaus auf die Straße.
Es war jedoch alles vorbei – Abes Abreise und Marys bevorstehende Abreise nach Salzburg am Nachmittag waren der Abschluss der Zeit in Paris. Vielleicht war sie auch von den Schüssen beendet worden, jenen Erschütterungen, mit denen wer weiß welche dunkle Angelegenheit zu Ende gebracht worden war. Die Schüsse waren in ihrer aller Leben gedrungen, und das Echo der Gewalt folgte ihnen aufs Pflaster hinaus. Während sie auf ein Taxi warteten, hörten sie, wie zwei Gepäckträger ihre eigene Autopsie der Ereignisse abhielten:
»Tu as vu le revolver? Il était très petit, vraie perle – un jouet.«
»Mais, assez puissant!«
, sagte der andere Träger brutal.
»Tu as vu sa chemise? Assez de sang pour se croire à la guerre.«
2*
20
Als sie auf den Platz hinaustraten, brodelten in der Julisonne träge Benzinschwaden, und im Gegensatz zu reiner |134| Hitze bot diese Luft keine Aussicht auf eine ländliche Erholung, sondern vermittelte nur den Eindruck, dass überall in den Straßen die gleiche schreckliche Atemnot herrschte. Rosemary hatte Krämpfe, als sie in einem Restaurant gegenüber des Jardin du Luxembourg im Freien zu Mittag aßen. Sie war gereizt und voller ungeduldiger Mattigkeit, was wohl auch die Ursache dafür gewesen war, dass sie sich schon auf dem Bahnhof der Selbstsucht bezichtigt hatte.
Dick ahnte nicht, wie krass die Veränderung ihrer Stimmung war; er war zutiefst unglücklich, und der daraus resultierende Zuwachs an Selbstmitleid beraubte ihn der grundlegenden Vorstellungskraft, mit deren Hilfe er seine Urteile fällte, und ließ ihn momentan blind dafür werden, was um ihn herum vorging.
Nachdem Mary North sie in Begleitung des italienischen Gesangslehrers verlassen hatte, der noch einen Kaffee mit ihnen getrunken hatte, ehe er Mary zum Zug brachte, stand auch Rosemary auf, die im Filmstudio »ein paar Offizielle« treffen wollte.
»Ach ja«, sagte sie, »wenn Collis Clay, dieser junge Mann aus den Südstaaten, kommt, solange ihr noch hier sitzt, dann sagt ihm doch bitte, dass ich nicht warten konnte; sagt ihm, er soll mich morgen anrufen.«
Aufgrund der letzten Ereignisse war sie ein wenig zu sorglos geworden und nahm sich kindliche Privilegien heraus, aber das ließen die Divers nicht zu, deren Elternliebe nur ihren eigenen Kindern gehörte; Rosemary wurde mit scharfen Worten zurechtgewiesen.
»Das sag mal lieber dem Kellner«, erklärte Nicole mit sachlicher, unliebenswürdiger Stimme. »Wir gehen jetzt auch gleich.«
|135| Rosemary begriff und steckte es ohne Verärgerung weg. »Dann kann man nichts machen. Tschüß, ihr Lieben.«
Dick verlangte die Rechnung, und die Divers entspannten sich, unschlüssig auf Zahnstochern kauend. »Tja –«, seufzten sie praktisch gleichzeitig.
Er nahm ein unzufriedenes Zucken in Nicoles Mundwinkeln wahr, so kurz, dass es außer ihm niemand gesehen hätte, und er so tun konnte, als wäre es ihm entgangen. Was dachte Nicole? Rosemary war eine von etwa einem Dutzend Personen, die er in den vergangenen Jahren »durchgearbeitet« hatte. Zu den anderen hatten ein französischer Clown, Abe und Mary North, ein paar Tänzerinnen, ein Schriftsteller, ein Maler, eine Comédienne vom Grand Guignol, ein halb verrückter Päderast vom Russischen Ballett und ein vielversprechender Tenor gehört, den sie für ein Jahr nach Mailand geschickt hatten. Nicole wusste genau, wie ernst diese Leute sein Interesse und seinen Enthusiasmus genommen hatten; aber sie wusste auch, dass Dick außer in den Tagen, als ihre Kinder geboren worden
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