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Zaertlich ist die Nacht

Zaertlich ist die Nacht

Titel: Zaertlich ist die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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Abschiedsvorstellungen unterschied: Die junge Frau mit dem helmähnlichen Haar, mit der Nicole hatte reden wollen, lief ein paar eigenartig wedelnde Schritte von dem Mann weg, mit dem sie gesprochen hatte, tauchte mit hektischen Fingern in ihre Handtasche; dann zerrissen zwei Revolverschüsse die knappe Luft auf dem Bahnsteig. Gleichzeitig pfiff die Lokomotive, der Zug begann sich zu bewegen und die Bedeutung der Schüsse schien für einen Augenblick kleiner zu werden. Abe winkte noch einmal aus seinem Fenster zu ihnen herunter, er hatte das Geschehene offenbar gar nicht bemerkt. Aber noch ehe die Menge den Tatort verdeckte, hatten die anderen schon die Wirkung der Schüsse gesehen, hatten gesehen, wie der Angeschossene sich auf den Bahnsteig gesetzt hatte.
    Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis der Zug hielt; Nicole, Mary und Rosemary warteten am Rand der Menge, während Dick sich hindurchkämpfte. Es dauerte fünf Minuten, bis er sie wiederfand   – zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Menge gespalten: Der eine Teil folgte dem auf einer Bahre liegenden Mann, der andere dem blonden Mädchen, das bleich und gefasst von zwei entsetzten Gendarmen abgeführt wurde.
    »Es war Maria Wallis«, sagte Dick eilig. »Der Mann ist Engländer   – sie hatten ziemliche Schwierigkeiten, herauszufinden, um wen es sich handelt, weil sie ihm durch seinen Ausweis geschossen hat.« Sie gingen jetzt, getrieben von der Menge, rasch vom Zug weg. »Ich habe ermittelt, auf welches Polizeirevier sie gebracht wird, ich werde mal hingehen   –«
    |131| »Aber ihre Schwester wohnt doch in Paris«, protestierte Nicole. »Warum rufen wir die nicht an? Kommt mir komisch vor, dass da keiner dran gedacht hat. Sie ist mit einem Franzosen verheiratet, der kann doch viel mehr erreichen als wir.«
    Dick zögerte, schüttelte den Kopf und rannte los.
    »Warte!«, schrie Nicole hinter ihm her. »Das ist doch verrückt   – was kannst du schon ausrichten, mit deinem Französisch?«
    »Zumindest kann ich verhindern, dass sie ihr irgendwas Scheußliches antun.«
    »Sie werden sie bestimmt nicht laufen lassen«, erklärte Nicole rasch. »Schließlich hat sie auf den Mann geschossen. Das Beste ist, Laura gleich anzurufen   – sie kann mehr tun als wir.«
    Dick war nicht überzeugt   – außerdem wollte er vor Rosemary eine gute Figur machen.
    »Du wartest hier«, sagte Nicole entschieden und eilte zu einer Telefonzelle.
    »Wenn Nicole die Dinge erst einmal in die Hand nimmt«, sagte er mit zärtlicher Ironie, »ist nichts mehr zu machen.«
    Er sah Rosemary zum ersten Mal an diesem Morgen. Sie tauschten Blicke und versuchten ihre Gefühle vom Vortag wiederzufinden. Einen Moment lang kamen sie sich ganz unwirklich vor   – dann kehrte langsam das warme Schnurren der Liebe zurück.
    »Du willst jedem helfen, nicht wahr?«, sagte Rosemary.
    »Ich tue nur so.«
    »Mutter hilft jedem gern   – aber sie kann natürlich nicht so vielen Leuten helfen wie du.« Sie seufzte. »Manchmal denke ich, dass ich der selbstsüchtigste Mensch auf der Welt bin.«
    Es war das erste Mal, dass die Erwähnung ihrer Mutter |132| ihn ärgerte, statt ihn zu amüsieren. Er wollte ihre Mutter beiseitefegen und die Affäre aus der Kindergartenatmosphäre herausholen, in die sie Rosemary immer wieder einhüllte. Gleichzeitig wurde ihm aber bewusst, dass dieser Impuls auch einen Kontrollverlust darstellte: Was würde wohl aus Rosemarys Verlangen werden, wenn er sich auch nur für einen Augenblick gehen ließ? Er sah voller Panik, wie die Affäre zur Ruhe kam; sie konnte aber nicht stillstehen, sie musste vorangehen oder verkümmern; zum ersten Mal begann er zu ahnen, dass Rosemary die Hand viel fester am Steuerknüppel hatte als er.
    Noch ehe er sich zu einer Vorgehensweise entschlossen hatte, kam Nicole schon wieder zurück.
    »Ich habe Laura erreicht. Sie hatte noch nichts von der Sache gehört, und ihre Stimme wurde mal leiser, mal lauter, als ob sie halb ohnmächtig wäre und sich dann wieder zusammenriss. Sie hätte gewusst, dass heute noch etwas passiert, hat sie zu mir gesagt.«
    »Maria sollte bei Diaghileff 1* auftreten«, sagte Dick mit sanfter Stimme, um sie wieder zur Ruhe zu bringen. »Sie hat einen guten Sinn für Dekor   – um nicht zu sagen für Rhythmus. Glaubt ihr, dass irgendeiner von uns jemals wieder einen Zug abfahren sehen kann, ohne Schüsse dabei zu hören?«
    Sie stolperten die breite eiserne Treppe hinunter. »Der arme Mann tut mir leid«, sagte

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