Zaertlich ist die Nacht
eigene.«
»Freunde hab ich auch satt. Was zählt, ist Speichellecker zu haben.«
Nicole versuchte, den Minutenzeiger der Bahnhofsuhr vorwärtszutreiben, aber Abe fragte: »Stimmst du mir zu?«
»Ich bin eine Frau, und meine Aufgabe ist es, die Dinge zusammenzuhalten.«
»Und meine, sie auseinanderzureißen.«
»Wenn du dich betrinkst, reißt du nichts auseinander außer dir selbst«, sagte sie kalt. Sie hatte jetzt Angst und keine Zuversicht mehr. Der Bahnhof füllte sich, aber es war niemand dabei, den sie kannte. Schließlich fiel ihr Blick voll Dankbarkeit auf eine schlanke junge Frau mit strohfarbenem, zu einem Helm gebürstetem Haar, die gerade einige Briefe in den Postkasten warf.
»Ich muss mit dem Mädchen da reden, Abe«, sagte sie. »He, wach auf, Abe! Du Idiot!«
Geduldig folgte ihr Abe mit den Augen. Die Frau drehte sich erschrocken zu Nicole um, und Abe erkannte, dass er sie irgendwo in Paris schon gesehen hatte. Er benutzte |128| Nicoles Abwesenheit, um heftig und qualvoll in sein Taschentuch zu husten und sich dann lautstark die Nase zu putzen. Der Tag war noch wärmer geworden, und er schwitzte in seine Unterwäsche. Seine Finger zitterten so heftig, dass er vier Streichhölzer brauchte, um sich eine Zigarette anzustecken. Es schien ihm jetzt absolut notwendig, in die Bar zu gehen und sich einen Drink zu beschaffen, aber Nicole kam schon wieder zurück.
»Das war ein Fehler«, sagte sie mit frostigem Lachen. »Erst hat sie mich gebeten, sie zu besuchen, und jetzt hat sie mich praktisch stehen lassen. Hat mich angeschaut, als wäre ich angefault.« Sie kicherte ärgerlich, als klimpere sie mit zwei Fingern in der höchsten Tonleiter. »Man muss die Leute eben kommen lassen.«
Abe erholte sich von einem Hustenanfall und sagte: »Das Problem ist, wenn du nüchtern bist, willst du niemanden sehen; und wenn du betrunken bist, will dich niemand sehen.«
»Wen? Mich?« Nicole lachte noch einmal; aus irgendeinem Grund hatte die Begegnung mit der jungen Frau sie erheitert.
»Nein, mich.«
»Dann kannst du auch nur für dich sprechen. Ich mag Leute, ich mag eine Menge Leute – ich mag –«
Rosemary und Mary North kamen in Sicht. Sie gingen langsam und schienen nach Abe zu suchen.
Nicole sprang auf und platzte heftig heraus: »Hey! Hallo! Hi!« Sie lachte und schwenkte die Taschentücher, die sie für Abe gekauft hatte.
Als unbehagliche Gruppe standen sie um Abes alles niederdrückende Riesengestalt herum. Er überragte sie wie eine gestrandete Galeone, ein mächtiger Körper, der seine |129| eigene Schwäche und Maßlosigkeit, Begrenztheit und Bitterkeit zu beherrschen versuchte. Seiner feierlichen Würde, und seiner fragmentarischen, vielversprechenden, aber auch überholten Leistungen waren sich alle bewusst. Zugleich fürchteten sie den noch vorhandenen Willen bei ihm, der einst ein Lebenswille gewesen und jetzt ein Wille zum Tod war.
Dick Diver kam und brachte eine schöne glänzende Oberfläche mit sich. Mit erleichtertem Kreischen sprangen die Frauen ihn an und hockten sich wie kleine Äffchen auf seine Schultern, auf die schöne Krone seines Hutes und den goldenen Knauf des Spazierstocks. Zumindest für den Augenblick konnten sie Abes obszöne Riesengestalt ignorieren. Dick erfasste die Situation, nahm die Dinge still in die Hand und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die Wunder des Bahnhofs. Gleich neben ihnen verabschiedeten sich ein paar Amerikaner mit Stimmen, die so klangen wie Wasser, das in eine gewaltige alte Badewanne hineinrauscht. Während sie auf dem Bahnhof standen und Paris noch hinter ihnen lag, schienen sie sich schon über den Atlantik zu recken, einen Gezeitenwechsel durchzumachen und zu Molekülen eines ganz anderen Volkes zu werden.
Mit frischen, neuen Gesichtern, intelligent, rücksichtsvoll, gedankenlos und wohl versorgt ergossen sich die wohlhabenden Amerikaner vom Bahnhof hinaus auf den Bahnsteig. Die gelegentlichen englischen Gesichter dazwischen schienen gierig und schlau. Als genug Amerikaner auf dem Bahnsteig versammelt waren, verblasste der erste Eindruck von Geld und Makellosigkeit zu einem vagen ethnischen Nebel, der sowohl sie selbst als auch die Betrachter an einer genaueren Wahrnehmung hinderte.
|130| Plötzlich packte Nicole ihren Mann am Arm und stieß einen Schrei aus. Dick drehte sich gerade noch rechtzeitig um, um zu sehen, was sich an einer Waggontür hinter ihm abspielte. Es war eine Szene, die sich scharf von den übrigen
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