Zaertlich ist die Nacht
Schwergewichtsweltmeister sprach; ein Augenzucken wies darauf hin, dass er in Erwägung zog, Dick herüberzurufen und ihm den Mann vorzustellen, aber dann entschied er sich offenbar doch dagegen.
Mit aller Entschlossenheit, die er am Schreibpult akkumuliert hatte, band Dick die gesellige Ader von Casasus ab. |141| Erst starrte er prüfend den Scheck an, dann richtete er seine Augen auf schwere Probleme jenseits der ersten Marmorsäule hinter dem Kopf des Bankiers, nahm seinen Spazierstock, den Hut und die Briefe umständlich in die andere Hand, sagte Auf Wiedersehen und ging hinaus. Den Türsteher hatte er schon seit Langem gekauft, und sein Taxi sprang geradezu an den Bordstein.
»Ich will zum Films-Par-Excellence-Studio – das ist in einer kleinen Straße in Passy. Fahren Sie zur Porte de la Muette. Von da aus zeige ich Ihnen den Weg.«
Er war von den Ereignissen der letzten achtundvierzig Stunden so verunsichert, dass er nicht wusste, was er eigentlich wollte; er bezahlte den Taxifahrer an der Muette und ging zu Fuß weiter. Ehe er das Studio erreichte, wechselte er auf die andere Straßenseite. Mit seinen feinen Kleidern und Accessoires wirkte er durchaus vornehm, wurde innerlich aber wie ein Tier getrieben und hin und her gerissen, und seine Selbstachtung hätte er nur wiedererlangen können, wenn er seine Vergangenheit und die Bemühungen der letzten sechs Jahre weggefegt hätte.
Stürmisch marschierte er um den Block mit der Einfältigkeit eines Halbwüchsigen aus den Romanen von Tarkington. Wenn er an den blinden Stellen vorbeikam, rannte er schneller, damit er Rosemary nicht womöglich verpasste, wenn sie das Studio verließ.
Es war eine melancholische Nachbarschaft. Unmittelbar neben dem Gebäude sah er ein Schild: 100 000
Chemises
. Die Hemden füllten das Schaufenster: aufgestapelt, mit Krawatten geschmückt, ausgestopft oder mit eleganter Schlampigkeit in die Vitrine drapiert. 100 000 Hemden – Sie können sie zählen! Links und rechts davon las er: Papeterie, Pâtisserie, Solde, Réclame und ein Plakat mit |142| Constance Talmadge in
Déjeuner de Soleil.
Etwas weiter entfernt folgten schwärzere Ankündigungen: Vêtements Ecclésiastiques, Déclaration de Décès und Pompes Funèbres. Leben und Tod.
Er wusste, dass es einen Wendepunkt in seinem Leben darstellte, was er da tat – es wich von allem ab, was er bisher getan hatte, ja, sogar von dem Eindruck, den er bei Rosemary zu erwecken versucht hatte. Rosemary hatte ihn bisher als Muster an korrektem Verhalten erlebt – dass er hier jetzt um den Block herumrannte, war eine Grenzüberschreitung.
Aber der Zwang, dass er sich jetzt so benehmen musste, war vor allem der Auswuchs einer verdrängten Realität: Er
musste
hier auf der Straße herumirren, er
musste
hier warten. Das Hemd umschloss sein Handgelenk wie der Zylinder den Kolben, der Jackenärmel umschloss das Hemd und der Kragen saß wie eine Gussform um seinen Hals. Sein rotes Haar war sauber geschnitten, seine Hand hielt die kleine Aktentasche wie die eines Dandys, und er stand da wie es ein anderer einst für nötig befunden hatte, in Sack und Asche vor einem Tor in Canossa zu stehen. Dick zahlte seinen Tribut an Dinge, die unvergessen, ungebeichtet und ungesühnt waren.
21
Nachdem er eine Dreiviertelstunde herumgestanden hatte, wurde er plötzlich in eine menschliche Begegnung verwickelt. Es war eine dieser Sachen, die einem gerade dann passieren, wenn man überhaupt keine Lust hat, mit jemand zu reden. Aber Dick wusste sein Unbehagen so gut zu |143| verbergen, dass er oft genau das Gegenteil von dem erreichte, was er eigentlich wollte. So wie ein Schauspieler, der untertreibt, damit erreicht, dass die Leute die Hälse recken und ihm Gefühle entgegenbringen, schien er in anderen die Fähigkeit zu wecken, den Abstand zu überbrücken, den er zu schaffen versuchte. Diejenigen, die unser Mitleid brauchen und danach verlangen, bedauern wir selten – stattdessen sparen wir unser Mitgefühl für diejenigen auf, die es mit anderen, abstrakteren Mitteln hervorlocken.
Wahrscheinlich hätte Dick den folgenden Zwischenfall auch selbst so analysiert. Als er zum wiederholten Mal die Rue des Saints-Anges heruntermarschierte, wurde er von einem schmalgesichtigen, etwa dreißigjährigen Amerikaner angesprochen, der irgendwie versehrt zu sein schien und dies mit einem schwachen, düsteren Lächeln andeutete. Als Dick ihm wie verlangt Feuer gab, erkannte er einen Typus in
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