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Zaertlich ist die Nacht

Zaertlich ist die Nacht

Titel: Zaertlich ist die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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er, dass es draußen dunkel geworden war. Es war schon um vier Uhr nachmittags ein windiger Abend. Die dünnen Blätter auf den Champs-Élysées rauschten und flatterten heftig. Dick lief zur Rue de Rivoli, wo er zwei Blocks weit unter den Arkaden zu seiner Bank ging, wo Post auf ihn wartete. Dann nahm er ein Taxi und fuhr im gerade beginnenden Regen die Champs-Élysées wieder hinauf, mit seiner Liebe allein.
    Vor zwei Stunden auf dem Flur des »Roi George« war ihm Nicoles Schönheit im Vergleich zur Schönheit von Rosemary wie ein Vergleich zwischen der Mona Lisa und einer Mode-Illustration vorgekommen. So bewegte er sich |161| durch den Regen, erfüllt von der Leidenschaft vieler Männer, voller Angst und Dämonen, und nichts schien mehr einfach.
     
    Von den Gefühlen, mit denen Rosemary ihre Tür öffnete, wusste sonst niemand. Sie war jetzt das, was manchmal »ein kleines wildes Ding« genannt wird   – seit vierundzwanzig Stunden war sie nicht mehr zu sich gekommen und spielte hemmungslos mit dem Chaos. Ihr Schicksal erschien ihr wie ein Puzzle, sie zählte ihre Begabungen und Hoffnungen, Dick, Nicole, ihre Mutter und den Regisseur, den sie gestern kennengelernt hatte, wie Glasperlen an einer Kette auf.
    Als Dick bei ihr klopfte, hatte sie sich gerade angezogen und in den Regen geschaut; dabei dachte sie an ein Gedicht und die vollen Rinnsteine in Beverly Hills. Sie öffnete die Tür und als sie ihn davor stehen sah, erschien er ihr als etwas Unveränderliches und Gottgleiches, so wie er immer gewesen war. Ältere erscheinen jungen Menschen oft als unbeweglich und starr.
    Dick wiederum betrachtete sie mit einem unvermeidlichen Gefühl der Enttäuschung. Er brauchte einen Moment, um auf die süße Arglosigkeit ihres Lächelns und ihren Körper zu reagieren, der bis ins Kleinste an eine Knospe erinnerte, die garantiert aufgehen würde. Aber dafür sah er ihren nassen Fußabdruck auf der Badematte hinter der Tür.
    »Miss Television«, 1* sagte er mit einer Heiterkeit, die er gar nicht empfand. Er legte seine Handschuhe und seine Aktentasche auf die Frisierkommode und lehnte seinen Stock an die Wand. Sein Kinn schob das schmerzliche Lächeln energisch zur Stirn und den Augenwinkeln hinauf, als wollte er seine Furcht nicht öffentlich zeigen.
    |162| »Komm, setz dich auf meinen Schoß«, sagte er leise, »damit ich deinen schönen Mund sehen kann.«
    Sie kam zu ihm, und während draußen der Regen nachließ   – tropf, tropf, tro-o-pf, legte sie ihre Lippen auf das köstliche kalte Bild, das sie geschaffen hatte.
    Gleich mehrfach küsste sie ihn auf den Mund, und ihr Gesicht wurde dabei sehr groß, wenn sie ihm nahe kam; er hatte noch nie etwas so Strahlendes wie ihre Haut gesehen. Und weil Schönheit oft unsere besten Regungen weckt, dachte er an seine Verantwortung für Nicole, die womöglich nur zwei Türen weiter in ihrem Zimmer war.
    »Der Regen hat aufgehört«, sagte er. »Siehst du, wie die Sonne sich auf den Dächern spiegelt?«
    Rosemary stand auf, beugte sich zu ihm herunter und sagte ihre ehrlichsten Worte zu ihm: »Ach, du und ich   – wir sind solche
Schauspieler.
«
    Sie ging zu ihrer Frisierkommode, aber kaum hatte sie ihren Kamm an die Haare gelegt, klopfte es an die Tür.
    Sie erstarrten vor Schreck; das Klopfen wiederholte sich langsam, aber beharrlich, und in der plötzlichen Erkenntnis, dass die Tür nicht verschlossen war, hörte Rosemary auf, sich zu kämmen und nickte Dick zu, der in aller Eile die Falten auf dem Bett glatt zu streichen versuchte, wo sie gesessen hatten. Dann ging sie in Richtung der Tür, und Dick sagte mit ganz natürlicher, halblauter Stimme: »…   wenn dir nicht danach ist, auszugehen, dann sage ich eben Nicole Bescheid, und wir machen uns einen ruhigen letzten Abend.«
    Diese Vorsichtsmaßnahmen waren allerdings unnötig, denn die Lage der Personen, die draußen standen, war so verzweifelt, dass sie zu irgendwelchen Erkenntnissen, die sie nicht unmittelbar betrafen, gar nicht mehr fähig waren. |163| Es handelte sich um Abe North, der in den letzten vierundzwanzig Stunden um Monate gealtert schien, und einen sehr verängstigten und besorgten Schwarzen, den Abe als Mr Peterson aus Stockholm vorstellte.
    »Er befindet sich in einer schrecklichen Lage«, sagte Abe, »und das alles ist meine Schuld. Wir brauchen unbedingt einen guten Rat.«
    »Kommt mit zu uns rüber«, sagte Dick.
    Abe bestand darauf, dass Rosemary ebenfalls mitkommen müsse, und sie gingen

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