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Zaertlich ist die Nacht

Zaertlich ist die Nacht

Titel: Zaertlich ist die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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tatsächlich die Grippe gehabt. Als er sie überwunden hatte, war er so erschöpft, dass er praktisch nur seine dienstliche Korrespondenz erledigen konnte, und danach wurden seine Erinnerungen an das Mädchen durch die sehr lebhafte Gegenwart eines Telefonfräuleins aus Wisconsin im Hauptquartier in Bar-sur-Aube überlagert. Sie hatte so rote Lippen wie ein Plakat, und in der Offiziersmesse wurde sie obszönerweise unter dem Namen »Das Stöpselbrett« weitergereicht.
    Franz kehrte ganz erfüllt von seiner Bedeutung in sein Büro zurück. Dick dachte, dass er wahrscheinlich ein guter Kliniker werden würde, denn der sonore, abgehackte Kommandoton, in dem er Krankenschwestern und Patienten zur Ordnung rief, kam nicht aus seinem Nervensystem, sondern aus einer riesigen, harmlosen Eitelkeit. Seine eigentlichen Gefühle waren viel moderater, aber die behielt er für sich.
    »Nun zu diesem Mädchen, Dick«, sagte er. »Natürlich möchte ich wissen, wie es dir geht, und dir von mir erzählen. Aber erst müssen wir über das Mädchen reden, ich warte ja schon so lange darauf, dir von ihr zu berichten.«
    Er suchte in einem Aktenschrank nach einer Mappe, aber nachdem er die darin befindlichen Papiere durchgewühlt hatte, gewann er offenbar den Eindruck, dass sie ihn bloß störten, und warf sie zurück auf den Schreibtisch. Stattdessen erzählte er einfach.

|195| 3
    Vor ungefähr anderthalb Jahren hatte Professor Dohmler eine diffuse Korrespondenz mit einem Mr Devereux Warren, einem amerikanischen Gentleman aus der Chicagoer Familie Warren, gehabt, der in Lausanne lebte. Ein Treffen wurde arrangiert, und eines Tages kam Mr Warren in die Klinik, zusammen mit seiner Tochter Nicole, einem Mädchen von siebzehn Jahren. Sie befand sich offensichtlich in einem schlechten Zustand, und die Krankenschwester in ihrer Begleitung ging mit ihr auf dem Gelände der Klinik spazieren, während Mr Warren mit Dohmler sprach.
    Warren war ein auffallend gut aussehender Mann, der jünger als vierzig zu sein schien. Er war in jeder Beziehung ein idealtypischer Amerikaner: groß, breitschultrig, gut gebaut   –
»un homme très chic«
, wie Professor Dohmler ihn Franz gegenüber beschrieb. Seine großen grauen Augen waren vom Rudern auf dem Genfer See sonnengerötet, und er hatte diese Aura, als ob er immer nur von allem das Beste gehabt hätte. Das Gespräch fand auf Deutsch statt, denn es zeigte sich, dass Warren in Göttingen studiert hatte. Er war nervös und offensichtlich sehr besorgt über seine Mission.
    »Doktor Dohmler, meine Tochter ist nicht richtig im Kopf. Ich habe viele Spezialisten und Krankenschwestern für sie engagiert, und sie hat eine Reihe von Ruhekuren gemacht, aber diese Sache wächst mir über den Kopf, und man hat mir dringend empfohlen, zu Ihnen zu kommen.«
    »Nun gut«, sagte Dohmler. »Wie wäre es, wenn Sie am Anfang beginnen und mir die ganze Geschichte erzählen?«
    »Es gibt keinen Anfang. Zumindest gibt es keine Geisteskrankheiten |196| in der Familie, von denen ich wüsste, weder auf väterlicher noch auf mütterlicher Seite. Ihre Mutter ist gestorben, als Nicole dreizehn war, und danach war ich Vater und Mutter zugleich für sie, mit der Hilfe von Erzieherinnen. Vater und Mutter zugleich.«
    Er war sehr bewegt, als er das sagte. Dohmler sah, dass er Tränen in den Augenwinkeln hatte, und merkte jetzt auch, dass sein Atem nach Whisky roch.
    »Als Kind war sie reizend   – jeder war ganz verrückt nach ihr, jeder, der mit ihr in Kontakt kam. Sie war aufgeweckt, blitzgescheit und den ganzen Tag glücklich. Sie hat gern gelesen, gemalt, getanzt und Klavier gespielt   – alles. Ich erinnere mich noch, dass meine Frau immer gesagt hat, sie wäre das einzige von unseren Kindern gewesen, das nachts nie geschrien hat. Ich habe noch eine ältere Tochter, und wir hatten einen Sohn, der gestorben ist, aber Nicole war   – Nicole war   – Nicole ——«
    Er brach ab, und Professor Dohmler half ihm fortzufahren. »Sie war ein vollkommen normales, intelligentes, glückliches Kind.«
    »Vollkommen.«
    Dohmler wartete. Mr Warren schüttelte den Kopf, stieß einen langen Seufzer aus, warf Dohmler einen schnellen Blick zu und starrte dann wieder zu Boden.
    »Vor ungefähr acht Monaten, oder vielleicht waren es auch sechs, oder möglicherweise auch zehn   – ich versuche, mich zu erinnern, aber ich weiß nicht mehr genau, wo wir waren, als sie anfing, komische Sachen zu machen   – verrückte Sachen. Ihre

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