Zaertlich ist die Nacht
zu interessieren, ob die Geschichte womöglich nach Amerika durchsickern würde. Wir haben einen Behandlungsplan für sie aufgestellt und gewartet. Die Prognose war schlecht. Wie du weißt, ist der Prozentsatz an Heilungen, auch an sogenannten sozialen Heilungen, in diesem Alter sehr niedrig.«
»Die ersten Briefe sahen sehr schlimm aus«, bestätigte Dick.
»Sehr schlimm, sehr typisch. Ich habe gezögert, ob ich sie überhaupt aus der Klinik herauslassen sollte. Dann hab ich mir gedacht: Es ist gut für Dick, wenn er sieht, dass wir durchhalten. Es war sehr großzügig von dir, dass du sie beantwortet hast.«
Dick seufzte. »Sie war so ein hübsches Ding – sie hat eine Menge Fotos von sich beigelegt. Und ich hatte dort einen Monat lang nichts zu tun. Alles, was ich in meinen Briefen geschrieben habe, war: Seien Sie ein braves Mädchen und gehorchen Sie den Ärzten.«
»Das hat genügt – dadurch hatte sie etwas von draußen, worüber sie nachdenken konnte. Eine Zeit lang hatte sie nämlich gar niemanden, nur eine ältere Schwester, der sie aber wohl nicht sehr nahe steht. Außerdem halfen uns die Briefe bei der Beurteilung ihres inneren Zustands.«
|203| »Das freut mich.«
»Verstehst du jetzt, was passiert ist? Sie fühlte sich mitschuldig, als eine Komplizin – das half ihr natürlich nicht weiter, aber allein schon daran kann man ihre Stabilität und Charakterstärke ermessen. Erst kam dieser Schock. Dann wurde sie ins Internat geschickt und hörte das Getuschel der Mädchen – deshalb hat sie aus reinem Selbstschutz die Vorstellung entwickelt, dass sie nichts damit zu tun hatte – und von da aus war es nur logisch für sie, in eine Phantomwelt zu flüchten, wo alle Männer um so schlimmer waren, je mehr man sie mochte und je mehr man ihnen vertraute –«
»Hat sie das Trauma jemals – direkt angesprochen?«
»Nein, und um ehrlich zu sein, als sie anfing, einen normalen Eindruck zu machen, ungefähr im Oktober, befanden wir uns in einem Dilemma. Wenn sie dreißig wäre, hätten wir gestattet, dass sie ihre eigene Einstellung findet, aber sie ist ja so jung, dass wir befürchteten, die ganze Verstörung würde sich in ihr festsetzen. Professor Dohmler hat deshalb offen zu ihr gesagt: ›Sie sind jetzt nur sich selbst verpflichtet. Diese Angelegenheit stellt keineswegs das Ende von irgendwas für Sie dar – Ihr Leben fängt ja gerade erst an‹ und so weiter. Sie hat wirklich einen scharfen Intellekt, und deshalb hat er ihr etwas Freud zu lesen gegeben, nicht zu viel, und es hat sie sehr interessiert. Um ganz ehrlich zu sein, wir alle hier haben sie zu unserem Liebling gemacht. Aber sie ist sehr zurückhaltend …« Gregorovius zögerte. »Ihre letzten Briefe an dich hat sie in Zürich selbst abgeschickt. Wir haben uns gefragt, ob sie darin vielleicht etwas geschrieben hat, was uns über ihren Geisteszustand und ihre Zukunftspläne aufklären würde.«
|204| Dick überlegte. »Ja und nein. Wenn du willst, kann ich dir die Briefe mal mitbringen. Sie scheint voller Hoffnung und hungrig auf das Leben zu sein, sogar ziemlich romantisch. Manchmal spricht sie von der ›Vergangenheit‹ – so wie Leute, die im Gefängnis gewesen sind. Aber man weiß nie, ob sie sich auf das Verbrechen, die Gefangenschaft oder das gesamte Erlebnis beziehen. Ich bin für sie schließlich nur so eine Art Stoffpuppe.«
»Natürlich, ich verstehe deine Haltung genau und möchte noch einmal unsere Dankbarkeit ausdrücken. Deshalb wollte ich auch mit dir reden, bevor du sie triffst.«
Dick lachte. »Denkst du, sie wird sich im Hechtsprung auf mich stürzen?«
»Nein, das nicht. Aber ich wollte dich bitten, sehr sanft mit ihr umzugehen. Du wirkst auf Frauen sehr anziehend, Dick.«
»Gott steh mir bei! Nun, ich werde ganz sanft und ganz eklig sein. Ich werde jedes Mal Knoblauch kauen und mir einen Stoppelbart wachsen lassen, wenn ich sie sehe. Ich werde sie schon dazu bringen, dass sie in Deckung geht.«
»Keinen Knoblauch!«, sagte Franz ernsthaft. »Du willst doch nicht deine Karriere gefährden. Aber du meinst es wohl gar nicht so ernst.«
»Hinken könnte ich auch noch. Und eine Badewanne hab ich sowieso nicht in meiner Wohnung.«
»Du machst ja nur Witze.« Franz entspannte sich etwas. »Jetzt erzähl mir von deinen Plänen.«
»Ich habe nur einen, Franz. Ich will ein guter Seelenarzt werden, der beste, der je gelebt hat.«
Franz lachte freundschaftlich, obwohl er merkte, dass Dick
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