Zaertlich ist die Nacht
Warren heranbrächte.
Später, als Warren seine Tochter bei ihnen gelassen hatte und nach Lausanne zurückgekehrt war und mehrere Tage vergangen waren, machten der Professor und Franz folgenden Vermerk in Nicoles Akte:
Diagnose: Schizophrénie. Phase aiguë en décroissance. La peur des hommes est un symptôme de la maladie, et n’est point constitutionelle … La prognostic doit rester réservé.*
* Diagnose: Schizophrenie. Akute und sich verschlimmernde Phase. Die Angst vor Männern ist ein Symptom der Krankheit und nicht angeboren … Die Prognose ist ungewiss.
In den folgenden Tagen warteten sie mit zunehmendem Interesse auf den von Mr Warren angekündigten zweiten Besuch.
|200| Er ließ auf sich warten. Nach vierzehn Tagen schrieb Professor Dohmler einen Brief. Als daraufhin nur weiteres Schweigen erfolgte, beging er das, was in jenen Tagen noch als
une folie
galt, und rief im Grandhotel Vevey an. Von einem Diener erfuhr er, dass Mr Warren gerade dabei sei zu packen, weil er nach Amerika zurückkehren wolle. Aber als er daran dachte, dass die vierzig Franken für den Telefonanruf in den Büchern der Klinik aufscheinen würden, kam das Blut der Schweizergarde in den Tuilerien 1* dem Professor zu Hilfe, und sorgte dafür, dass Mr Warren ans Telefon geholt wurde.
»Es ist – absolut – notwendig, dass Sie herkommen. Die Gesundheit Ihrer Tochter hängt davon ab. Ich kann die Verantwortung nicht übernehmen.«
»Aber hören Sie, Doktor, dafür sind Sie doch da. Ich muss dringend nach Hause!«
Professor Dohmler hatte noch nie mit jemand gesprochen, der so weit weg war, aber er schickte sein Ultimatum so entschlossen durchs Telefon, dass der gequälte Amerikaner am anderen Ende der Leitung nachgab.
Eine halbe Stunde nach seiner zweiten Ankunft am Zürichsee war Warren zusammengebrochen. Er schluchzte, und seine prächtigen Schultern zitterten unter dem weiten Mantel, seine Augen waren röter als die Abendsonne am Genfer See – und die beiden Ärzte hatten die ganze böse Geschichte.
»Es ist einfach passiert«, sagte er heiser. »Ich weiß nicht – ich weiß nicht. Als sie noch klein war und ihre Mutter gestorben war, kam sie jeden Morgen zu mir ins Bett, und manchmal hat sie auch in meinem Bett geschlafen. Die Kleine tat mir so leid. Wenn wir zusammen im Auto oder im Zug gefahren sind, haben wir immer Händchen gehalten. Sie hat |201| mir vorgesungen. Wir haben immer gesagt: ›Heute Nachmittag kümmern wir uns um niemanden sonst‹, oder ›Es geht nur um dich und mich‹, oder ›Heute Vormittag gehörst du nur mir.‹« Ein kaputter Sarkasmus drängte sich in seine Stimme: »Die Leute sagten immer, wir wären als Vater und Tochter so wunderbar, sie mussten sich vor Rührung die Augen wischen. Wir waren wie ein Liebespaar – und dann waren wir plötzlich ein Liebespaar. Zehn Minuten, nachdem es passiert war, hätte ich mich erschießen können, aber ich bin so verdammt degeneriert, ich hab nicht die Nerven dazu gehabt.«
»Und dann?«, fragte Professor Dohmler und dachte wieder an Chicago und einen freundlichen, blassen Gentleman mit einem Zwicker, der ihn vor dreißig Jahren in Zürich begutachtet hatte. »Ist das weitergegangen?«
»Oh, nein. Sie ist … Sie ist sofort zu Eis erstarrt. Sie sagte: ›Macht nichts, macht nichts, Daddy. Es ist nicht schlimm. Mach dir nichts draus.‹«
»Es hat keine Konsequenzen gegeben?«
»Nein.« Ein kurzes, krampfhaftes Schluchzen schüttelte Warren, dann putzte er sich mehrfach die Nase. »Außer jetzt natürlich. Jetzt gibt es massenhaft Konsequenzen.«
Als die Geschichte zu Ende war, lehnte sich Dohmler in seinem Sessel im Zentrum der kultivierten Mittelklasse zurück und dachte nur: ›Bauer!‹ Es war wohl das unwissenschaftlichste Urteil, das er sich seit zwanzig Jahren erlaubt hatte. Dann sagte er: »Ich möchte, dass Sie sich in Zürich ein Hotelzimmer nehmen, die Nacht dort verbringen und morgen früh noch einmal zu mir kommen.«
»Und dann?«
Professor Dohmler breitete die Hände weit genug aus, um ein junges Schwein darin wegzutragen.
»Chicago«, empfahl er. 2*
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»Jetzt wussten wir also, woran wir waren«, sagte Franz. »Dohmler erklärte sich bereit, den Fall zu übernehmen, wenn sich Warren bereit erklärte, sich auf unbestimmte Zeit von seiner Tochter fernzuhalten, mindestens für fünf Jahre. Nach seinem Zusammenbruch hat sich Warren aber schnell wieder gefangen und schien sich nur noch dafür
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