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Zaertlich ist die Nacht

Zaertlich ist die Nacht

Titel: Zaertlich ist die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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Schwester war die Erste, die mir davon erzählt hat   – weil Nicole für mich immer dieselbe war«, fügte er beinahe hastig hinzu, so als hätte ihn jemand beschuldigt, dass er daran schuld wäre. »Für mich war sie |197| immer noch dasselbe liebe kleine Mädchen. Beim ersten Mal ging es um einen Diener.«
    »Oh, ja«, sagte Professor Dohmler und nickte mit dem ehrwürdigen Haupt, als habe er wie Sherlock Holmes an dieser Stelle der Geschichte einen Diener und nichts anderes erwartet.
    »Ich hatte einen Diener, der war schon seit Jahren bei mir   – ein Schweizer, übrigens.« Er hob den Kopf und suchte Professor Dohmlers patriotische Unterstützung. »Sie hatte plötzlich diese verrückten Fantasien über ihn. Sie dachte, er würde ihr nachstellen   – natürlich habe ich ihr damals geglaubt und hab ihm gekündigt, aber jetzt weiß ich, dass es alles bloß Unsinn war.«
    »Was hat sie denn gesagt, was er getan hätte?«
    »Das war schon auffällig   – die Ärzte konnten nichts aus ihr rauskriegen. Sie hat sie bloß angeschaut, als wüssten sie schon, was er getan hatte. Sie glaubte offensichtlich, dass er sich ihr irgendwie unsittlich genähert hätte   – daran ließ sie uns nicht im Zweifel.«
    »Verstehe.«
    »Natürlich habe ich schon von Frauen gelesen, die einsam sind und sich einbilden, dass bei ihnen ein Mann unterm Bett liegt oder so etwas   … Aber warum sollte sich Nicole so etwas einbilden? Sie konnte doch alle jungen Männer haben, die sie nur wollte. Wir waren in Lake Forest   – das ist so eine Sommerfrische in der Nähe von Chicago, wo wir ein Haus haben   – und sie war den ganzen Tag draußen und spielte Tennis und Golf mit den Jungs. Und einige waren ganz schön in sie verknallt.«
    Die ganze Zeit, während Warren auf den alten Knochen einredete, dachte ein Teil von Professor Dohmlers Gehirn an Chicago. In seiner Jugend hätte er dort mal als Stipendiat |198| und Dozent an die Universität gehen können. Vielleicht hätte er sogar seine eigene Klinik gründen und reich werden können, statt nur Minderheitsgesellschafter in seiner Klinik zu sein. Aber als er sich vorstellte, seine, wie er fand, ohnehin dürftigen Kenntnisse auf dieses riesige, fremde Gebiet mit seinen Weizenfeldern und endlosen Prärien verteilen zu müssen, hatte er sich damals dagegen entschieden. Aber er hatte viel über Chicago und die großen feudalen Familien der Armours, Palmers, Fields, Cranes, Warrens, Swifts, McCormicks und anderer gelesen, und seither waren nicht wenige Patienten aus dieser Chicagoer und New Yorker Gesellschaftsschicht zu ihm gekommen.
    »Stattdessen wurde es schlimmer mit ihr«, fuhr Warren fort. »Sie hatte einen Zusammenbruch oder so etwas   – die Dinge, die sie sagte, wurden immer verrückter. Ihre Schwester hat ein paar davon aufgeschrieben   –« Er gab dem Mediziner ein häufig gefaltetes Blatt Papier. »Fast immer ging es um Männer, die sie zu überfallen drohten. Männer, die sie kannte, aber auch Männer auf der Straße   – irgendwelche Männer   –«
    Er erzählte von der Beunruhigung und dem Entsetzen, die das bei ihnen ausgelöst hatte, von der schrecklichen Zeit, die eine Familie unter solchen Umständen durchmachen muss, von den ergebnislosen Bemühungen in Amerika und schließlich von der Hoffnung, dass eine Veränderung der Umgebung etwas bewirken könnte, weshalb er seine Tochter trotz der Bedrohung durch deutsche U-Boote hierher in die Schweiz gebracht habe.
    »Auf einem Kreuzer der Vereinigten Staaten«, sagte er mit einer gewissen Großspurigkeit. »Durch einen glücklichen Zufall konnte ich das so einrichten.« Er lächelte |199| entschuldigend und fügte hinzu: »Vielleicht sollte ich noch ergänzen, dass Geld   – wie man so sagt   – keine Rolle spielt.«
    »Sicher nicht«, bestätigte Dohmler, der sich inzwischen fragte, warum und worüber der Mann ihn belog. Oder   – falls er sich in dieser Hinsicht irren sollte   – warum der ganze Raum und speziell der gut aussehende, in teuren Tweed gehüllte Mann, der sich da mit der Lässigkeit eines Sportlers vor ihm in seinem Sessel räkelte, so mit Falschheit erfüllt schien. Das da draußen in diesem Februartag war eine Tragödie, ein junger Vogel mit gebrochenen Schwingen, aber das hier drinnen war alles fadenscheinig und falsch.
    »Ich würde jetzt gern   – ein paar Minuten   – mit ihr selbst sprechen«, sagte Professor Dohmler und wechselte dabei ins Englische, als ob ihn das näher an

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