Zärtlich wie ein Krieger / Wächter der Seelen. Roman
Binsenflaum vom Ärmel seiner Robe und pustete ihn sanft in die Luft. »Weil er nicht dabei zuschauen will, wie der Schleier in die falschen Hände gerät.«
»Wirklich? Bisher hat er keinen Finger krumm gemacht, um uns zu helfen.«
»Er ist beschäftigt.«
Sie warf dem Sensei einen strengen Blick zu. »Womit?«
»Dem magischen Staub nach zu urteilen, der um den Wohnwagen herum in der Luft hängt, vermute ich, dass er versucht, den Schleier zu zerstören.«
Kiyokos Herz blieb beinahe stehen. »Sind Sie sicher? Warum haben Sie das nicht schon früher gesagt? Wenn es ihm gelingt, bevor ich transzendiere …«
»Eine Vermutung bedeutet niemals Gewissheit«, sagte er, wobei ein tadelnder Unterton mitschwang. »Und der Grund, warum ich es nicht schon früher gesagt habe, ist der, dass ich es eben erst selbst erkannt habe.«
Sie sah in den dunstigen blauen Himmel hinauf. Es würde noch einige Stunden lang hell sein – lange genug, um sich an dem Transzendenzritual zu versuchen. »Wann ist der nächste günstige Tag?«
»Sonntag.«
Bis dahin war es fast noch eine ganze Woche. »Sie kennen die Reliquie. Wie wahrscheinlich ist es, dass der Magier Erfolg haben wird?«
Er hob den Saum seiner Robe an und betrachtete seine Zehen, während er sie ins Gras krallte. »Ich habe seit dem Tag, an dem der Schleier zu uns kam, nach einer Möglichkeit gesucht, ihn zu zerstören. Leider vergeblich.«
Der Knoten in ihrem Bauch lockerte sich etwas.
Jahrelang.
»Doch der Magier verfügt über Begabungen, die ich nicht besitze«, ergänzte Sora.
Vielleicht hatte er recht. Aber der Sensei war ein bescheidener Mann. Auch er hatte Fähigkeiten, die weit außerhalb der Norm lagen. »Ich habe beschlossen, nicht ohne Murdochs Mithilfe zu versuchen zu transzendieren. Ich weigere mich, hinter seinem Rücken in seine Aura einzudringen und die Kraft seines Berserkers anzuzapfen.«
Der alte Onmyōji zuckte die Achseln. »Dann warte ab. Die Gefahr, dass der Schleier bis Sonntag zerstört wird, ist gering.«
Kiyoko teilte seine Ansicht. Brian Webster eine weitere Woche hinzuhalten war zwar eine Herausforderung, aber da sie Lena auf ihrer Seite wusste, erschienen ihr die Erfolgsaussichten recht gut. Nachdem ihre Entscheidung gefallen war, richtete sie ihre Aufmerksamkeit erneut auf den Wohnwagen. »Ich klopfe also einfach höflich an die Tür?«
»So ist es.«
»In Ordnung.« Sie ließ ihn am Teich stehen und ging quer durch den Garten zum Wohnwagen. An dem Steinpfad angekommen, der zur Eingangstür führte, hielt sie inne, um noch einmal ihren ganzen Mut zusammenzunehmen.
Bevor sie noch einen weiteren Schritt tun konnte, flog die Tür auf.
Der Magier stand im Rahmen. Seine Kleidung war zerknittert und verrutscht, und sein ohnehin schon widerspenstiges Haar stand in einem Wirrwarr aus stumpfen schwarzen Locken von seinem Kopf ab. Sein Gesicht wirkte trotz der dunklen Stoppeln an seinem Kinn schmaler, als sie es in Erinnerung hatte. In den Händen hielt er einen großen, viereckigen Folianten, in dessen Deckel mit Blattgold ägyptische Hieroglyphen geprägt waren.
»Da!«, sagte er und hielt ihr das Buch hin. »Nehmen Sie es.«
Sie lief ihm entgegen und nahm den Lederband entgegen. Er war überraschend leicht für solch ein großes Buch.
»Sagen Sie ihm, dass der Aufhebungszauber auf einem Stück Papier ganz vorn im Buch steht. Und jetzt gehen Sie!«
Kiyoko zögerte. Doch sie hatte nichts zu verlieren. »Wenn es Ihnen gelingt, einen Weg zu finden, den Schleier zu zerstören, wäre es mir sehr lieb, wenn Sie mich warnen, bevor Sie es tun.«
Sein freudloser Blick traf den ihren. »Das kann ich nicht versprechen.«
»Aber werden Sie es versuchen?«
Er nickte. »Ich werde mein Bestes tun.«
Dann schlug er ihr die Tür vor der Nase zu. Zum zweiten Mal.
Emily steckte mitten in einer Kreiselattacke auf Murdoch, als ihr ein kalter Finger die Wirbelsäule hinunterkroch. Da sie sich mitten in einer warmen, hell erleuchteten Arena befand, erschreckte sie die unheimliche Empfindung so sehr, dass sie aus dem Gleichgewicht geriet. Die Spitze ihres Schwertes schlitzte seinen Ärmel auf und fuhr in seinen Arm.
»Aua.«
»Tut mir leid.« Beim Anblick des Blutes, das sofort die graue Baumwolle tränkte, verzog sie das Gesicht. »Soll ich dir ein Pflaster holen?«
Er spähte durch die roten Ränder des Lochs in seinem Pullover. »Nein, es ist nicht weiter schlimm.« Dann blickte er auf. »Alles in Ordnung mit dir? In den letzten Monaten
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