Zärtlich wie ein Krieger / Wächter der Seelen. Roman
fluteten noch immer von Zeit zu Zeit durch sie hindurch.
»Schlafende Kraft«, wiederholte Sora nachdenklich. »Hm. Ich habe schon einmal Beschreibungen von etwas Ähnlichem gehört, aber ich erinnere mich nicht mehr, wo. Ich werde meine Tagebücher zu Rate ziehen müssen.«
Kiyoko, die Sora jeden einzelnen ihrer Gedanken anvertraut hatte, seit sie vor zwölf Jahren seine Schülerin geworden war, fühlte sich verpflichtet hinzuzufügen: »Ein Energieblitz fuhr von seinem Körper in meinen. Ich spüre ihn immer noch.«
Sora nickte. »Ja, ich habe gesehen, wie er deine Aura sofort veränderte.«
»Glauben Sie, dass diese Begegnung eine Bedeutung hat?«
»Nun ja, sie entspricht in der Tat der Beschreibung des kraftvollen Mannes, dessen Eintritt in dein Leben ich vorausgesagt hatte, nicht wahr? Inwieweit er deine Zukunft beeinflussen wird, bleibt abzuwarten. Vielleicht war es auch nur ein zufälliges Zusammenfallen von Ereignissen, das sich niemals wiederholen wird.« Er trank einen Schluck Tee.
»Oder?«
»Oder er ist die Antwort auf deine Gebete. Wenn Murdoch-san tatsächlich eine seltene Kraft besitzt, bist du möglicherweise dazu in der Lage, sie freizusetzen … dein Ki wieder zu entfachen und die Stärke zu gewinnen, um zu transzendieren.«
»Wir werden die Wahrheit nie herausfinden, wenn er Japan wieder verlässt«, erwiderte Kiyoko langsam, während sich Erregung in ihrem Bauch rührte. Der Gedanke, Murdoch wiederzusehen, war äußerst reizvoll.
»Das ist wahr.«
Kiyoko stand auf und ging zu dem geöffneten Fenster hinüber. Dunkelheit hatte sich wie ein Schleier über die November-Brauntöne gelegt, die das Tal bemalt hatten. Sie ließ den mondbeschienenen Fluss unter ihnen in einem surrealen Glühen aufleuchten. »Dann sollten wir Murdoch-san in den Dōjō einladen. Ich werde Yoshio und acht unserer besten Krieger entsenden, damit sie ihn hierherbegleiten.«
Sora lächelte. »Ich hoffe nur, das wird genügen.«
Murdoch schloss die Tür zur Duschkabine.
Was für ein verflucht scheußlicher Abend. Er hatte Kiyoko Ashidas Spur verloren, viel zu viel öffentliches Aufsehen erregt und sich in dem Restaurant eine saftige Rechnung eingehandelt, für deren Begleichung er keinerlei Rücklagen besaß. Aber es hätte noch schlimmer laufen können. Hätten sich die beiden Krieger nicht beim ersten fernen Heulen der Sirenen davongemacht, dann hätte er vielleicht weitergekämpft, bis die Polizei eingetroffen wäre.
Und Polizisten umzubringen wäre ein neuer Tiefpunkt in seinem Leben gewesen.
Die Hände zu beiden Seiten des Waschbeckens aufgestützt, stierte er in den beschlagenen Badezimmerspiegel. Kein einziger Kratzer. Kein blauer Fleck, kein gezerrter Muskel an seinem ganzen Körper.
Leider konnten seine beiden Widersacher nicht dasselbe von sich behaupten. Beide hatten das Schlachtfeld mit jeder Menge Verletzungen verlassen, deren Schweregrad von einer Bauchwunde bis zu einem gebrochenen Arm reichte. Sie hatten sich als außerordentlich flink erwiesen und länger als die meisten anderen standgehalten, aber der einsetzenden Schwerfälligkeit ihrer Beine nach zu urteilen, hätte es nicht mehr lange gedauert, bis sie in die Grube gefahren wären. Angesichts der Tatsache, dass es ihr einziges Verbrechen war, eine junge, wehrlose Frau zu beschützen, gefiel ihm dieser Gedanke gar nicht.
Was, zum Teufel, war geschehen?
Sicher, der Berserker in ihm war ein bisschen zu ungebärdig, und ihn im Zaum zu halten war ein ständiger Kampf, aber heute Abend hatte er wie besinnungslos über die Stränge geschlagen. Er hatte vollkommen die Kontrolle verloren, ganz so, als wäre er in eine aussichtslose Situation gedrängt worden, und sein Berserker hätte in einem letzten Befreiungsschlag ums Überleben gerungen. Gegen zwei mickrige Menschen jedoch hatte eine so heftige Reaktion keinen Sinn.
Er rieb sich mit der Hand über die nackte Brust.
Die Minuten, die seinem Abgleiten in den zornigen Berserkermodus gefolgt waren, verschwammen zu einer Flut von Kampfhandlungen. Aber seine Erinnerung an genau jenen Augenblick, unmittelbar bevor er darin versank, blieb so klar wie Quellwasser: die zufällige Berührung von Kiyoko Ashidas Hand. Das sinnliche heiße Streifen von Haut über Haut, das süße Brennen der Begierde in seinen Adern, das plötzliche und überwältigende Bedürfnis, sie zu besitzen.
In siebenhundert Jahren Existenz hatte er jeden nur erdenklichen Typ Frau kennengelernt und jede wunderbare Facette
Weitere Kostenlose Bücher