Zärtlich wie ein Krieger / Wächter der Seelen. Roman
Augenblicke gedauert hat, bis sie vollkommen überfordert waren. Er musste aufhören.«
»Aha! Ein komplizierter Mann, unser Mr Murdoch.«
»Offenbar doch zu kompliziert.« Kiyoko seufzte. »Vielleicht kann ich auf anderem Wege mein Schicksal erfüllen, Sensei.«
»Vielleicht«, räumte Sora ein. »Aber es kann kein Zufall sein, dass sich eure Wege gekreuzt haben. Nicht, wenn er genau so viel Macht besitzt, wie du brauchst. Und es kann auch kein Zufall sein, dass der Schleier dich und Murdoch nun an einen gemeinsamen Kurs bindet.«
»Wir verfolgen keinen gemeinsamen Kurs«, protestierte sie. »Er versucht, den Schleier an sich zu bringen, während ich versuche, ihn zu behalten.«
»Ihr habt beide dasselbe große Ziel: Ihr wollt das Böse vernichten.«
Kiyoko zog den Knoten ihres Gürtels enger. »Murdoch hat keinen Respekt vor der Arbeit, die wir tun. Er glaubt, wir sind verrückt, weil wir uns mit Dämonen anlegen.«
Der alte Mann zuckte die schmalen Schultern. »Er weiß nichts von den Kräften, die du erben wirst, wenn du transzendierst. Deine magischen Fähigkeiten werden sich verzehnfachen, dein Körper wird Verletzungen selbst heilen können, und deine Weissagungen werden präziser werden. Und was vielleicht noch wichtiger ist: Du wirst die Onmyōji-Krieger, die du anführst, neu beleben. Du wirst der Legende Abe no Seimeis ein weiteres Kapitel hinzufügen.«
Kiyoko durchquerte den Raum, um in ihre Reisstrohsandalen zu schlüpfen. »Warum sind Sie so sicher, dass es immer noch meine Bestimmung ist hinüberzugehen, Sensei? Wäre es nicht möglich, dass sich mein Schicksal seit dem Tod meines Vaters geändert hat?«
»Die Sterne sind die Sterne, Kiyoko-san«, erwiderte er, während er sie mit einer wedelnden Handbewegung vor sich aus dem Meditationsraum scheuchte. »Sie sagen, was sie sagen. Du wirst in dem Kampf gebraucht, der vor uns liegt.«
Sie trat hinaus in die Mittagssonne. Seine Worte waren nach der Dämonenjagd in der vergangenen Nacht leichter zu glauben. Trotz Murdochs Überzeugung, dass sie und ihre
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unfähig waren, hatten sie die Höllenbrut aufgespürt, die sich in einem Badehaus von Sapporo niedergelassen und das heiße, mineralhaltige Wasser mit Krankheitskeimen verseucht hatte.
»Dann sollte ich wohl besser den Weg weitergehen und mein Schicksal erfüllen.«
»Du bist der allergrößte Glückspilz auf der Welt«, sagte Sheila mit einem tiefen Seufzer.
Emily schob ihre Schulbücher auf den anderen Arm und suchte in ihrer Hosentasche nach dem Handy. »Warum das denn? Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich die Englischprüfung vergeigt habe.« Sie schaute auf das Display. Eine SMS von ihrer Mutter. »Meine Mom kommt erst in einer halben Stunde. Gehen wir in die Cafeteria?«
»Äh, ich glaube, du hast schon etwas anderes vor. Ist das nicht einer der Schwertschüler deines Stiefvaters?«
Emily sah auf. Ihre beste Freundin nickte Richtung Haupteingang – wo die schlanke Gestalt eines jungen Erzengels lässig an der weißen Ziegelmauer lehnte. Uriel. »Nein, aber du hast ihn wahrscheinlich auf der Ranch gesehen. Er besucht uns ab und zu.«
»Ist jeder Typ in deinem Leben so ein Schnuckelchen?«
»Ich weiß nicht, ob ›Schnuckelchen‹ das richtige Wort für Uriel ist«, entgegnete Emily trocken. Während sie ihr Handy wieder wegsteckte, bog sie auf dem Flur nach links in Uriels Richtung ab, im Gleichschritt mit Sheila.
»Nimmst du mich auf den Arm? Schau ihn dir doch an!«
Emily schaute ihn sich an. Und unternahm den ernsthaften Versuch, den Erzengel mit Sheilas Augen zu sehen. Hoch aufgeschossen, muskulös. Ein vollkommenes Gesicht, eine intensive Leuchtkraft und ein lässiges Selbstbewusstsein, von dem die meisten Männer nur träumen konnten.
Ja, okay. Vielleicht war er ein Schnuckelchen. Aber …
»Er ist zu alt für dich.«
»Das sagt mir ausgerechnet die, die mit vierzehn einen zweiundzwanzig Jahre alten Freund hatte.«
»Ich war …«
von einem Lockdämon beeinflusst.
Doch mit dieser Erklärung würde Sheila noch nichts anfangen können.
»… verknallt. Es war blöd, ich gebe es zu.«
»Und was ist mit Carlos? Er war siebzehn.«
Emily schluckte schwer. An Carlos zu denken tat noch immer weh. Sie spürte ihn manchmal, verschwommen, am Rande ihres Bewusstseins. Es war eine vertraute, tröstliche Gegenwart, bei der sich der Schmerz über den Verlust wieder bemerkbar machte und die Frage aufwarf, wie es ihm ging. Aber die mentalen Mauern, die sie zu errichten
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