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Zärtlich wie ein Krieger / Wächter der Seelen. Roman

Zärtlich wie ein Krieger / Wächter der Seelen. Roman

Titel: Zärtlich wie ein Krieger / Wächter der Seelen. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette McCleave
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er die Schale mit den Reisbällchen näher.
    »Ihr Ki?«, fragte er.
    Der Alte umfasste die Tasse mit seinen beiden mageren Händen, brachte die dampfende Flüssigkeit an seine Lippen und trank langsam. »Ihre spirituelle Energie. Kiyoko ist eine begnadete Mystikerin, und sie zehrt von ihrem Ki, wenn sie ihre Zauber wirkt. Wie es bei einem geliebten Elternteil zu erwarten ist, hat sie an jenem Tag alles Erdenkliche versucht, um ihren Vater zu heilen. Leider hat sie dabei ihr Ki so sehr beansprucht, dass es sich nicht mehr regenerieren konnte. Wäre der Schleier nicht gewesen, so wäre sie gestorben.«
    Natürlich! Der gottverdammte Schleier!
    Murdoch setzte sich auf das Kissen, das Sora gegenüber lag. »Der Schleier gibt ihr also so etwas wie energetische Vitaminspritzen?«
    »Nicht ganz.« Sora nahm erneut einen Schluck. Offenbar tat ihm das warme Getränk gut. »Stellen Sie ihn sich eher als Kontrolllicht vor. Solange es brennt, kann Kiyoko sich seiner bedienen, um ihren eigenen Energievorrat aufzufüllen. Aber wenn das Kontrolllicht erlischt …«
    Murdoch starrte auf die pergamentartige Haut von Soras geschlossenen Lidern. »Sie wollen damit sagen, dass ich sie umbringe, wenn ich ihr den Schleier wegnehme.«
    »Ja.«
    »Das kann ich nicht glauben. Kiyokos Gesicht spricht eine andere Sprache. Sie war mehr als einmal versucht, ihn mir auszuhändigen. Wenn ihr Leben von ihm abhängen würde, bezweifle ich, dass es ihr auch nur in den Sinn käme, ihn aufzugeben.«
    Sora öffnete die Augen wieder. »Darüber nachzudenken, ihn aufzugeben, und es dann tatsächlich zu tun, sind zwei Paar Schuhe, Mr Murdoch. Ihr Bestreben, sich ehrenhaft zu verhalten, steht ständig im Widerstreit zu ihrem Selbsterhaltungstrieb, der sie an dem Schleier festhalten lässt. Das ist nur natürlich für jemanden mit Kiyokos Charakter. Aber sie kennt die Konsequenzen.«
    Er setzte seine Tasse ab.
    »Ich spüre, dass es Ihre begründete Forderung auf Herausgabe des Schleiers und Kiyokos Gewissensbisse sind, die die gegenwärtige Krise verursachen.«
    »Sie meinen ihre Erschöpfung?«
    Sora erhob sich und sah nun schon wieder besser aus. In seine Wangen war etwas Farbe zurückgekehrt. »Es ist mehr als Erschöpfung. Ihr Ki hat erneut einen gefährlichen Tiefstand erreicht, doch diesmal erholt sie sich besorgniserregend langsam. Die Kraft des Schleiers ist geblieben, aber Kiyoko reagiert darauf nicht mehr in dem Maße, wie sie es einmal getan hat.«
    »Aber sie
wird
sich doch wieder erholen?«
    »Ich glaube schon. Die Ärztin versichert mir, dass sie stetig Fortschritte macht.«
    Murdoch kam mit einem kräftigen Schwung wieder auf die Beine. Er musste sie sehen. Vor allem, um sich selbst davon zu überzeugen, dass sein Berserker sie nicht mit dem Schwert getroffen hatte, aber auch, um mit eigenen Augen die Auswirkungen ihres geschwächten Ki zu sehen. Sonst war er sich nicht sicher, ob er Soras bizarre Geschichte glauben konnte. »Ich will zu ihr.«
    Sora wies in den rückwärtigen Teil des Hauses. »Ein kurzer Blick kann ihr nicht schaden. Aber wenn Sie sie aufwecken, werde ich sehr ungehalten.«
    Bei Murdochs leisem Klopfen glitt die Trenntür auf. Die Ärztin nickte ihm höflich zu, dann trat sie beiseite, um den Blick auf den Futon und die Frau freizugeben, die dort reglos und zerbrechlich unter den Laken lag.
    Murdoch erschrak zutiefst. Kiyokos Brust hob und senkte sich langsam unter regelmäßigen, lebenserhaltenden Atemzügen, doch ihr Gesicht wirkte hohlwangig, wie er es nur zu gut kannte – so sahen Seelen aus, die bereit waren zu gehen. Ihre Schultern waren nackt und mager, ihr schwarzes Haar hob sich deutlich von dem weißen Kissen ab. Dieses Bild mit der vor Leben sprühenden, entschlossenen Frau in Einklang zu bringen, die er vor ein paar Stunden auf dem Hof geküsst hatte, war nicht leicht.
    Und er hatte ihr das angetan!
    Durch seine unkontrollierbare Berserkerwut und seinen lächerlichen Drang, sie besitzen zu wollen.
    »So schwer es jetzt auch zu glauben sein mag«, ließ sich Sora mit ruhiger Stimme hinter ihm hören, »ihr Zustand sollte sich bis zum Abendessen wieder normalisiert haben, abgesehen von den gebrochenen Rippen. Ihre Vitalzeichen sind stabil, und ihr Ki wird von Minute zu Minute stärker.«
    »Wollten Sie mir damit meine Schuldgefühle nehmen?«, fragte Murdoch. »Falls ja, hat es nämlich nichts gebracht.«
    »Mit dem Finger auf jemanden zu zeigen, um ihm die Schuld zu geben, ist nur selten nutzbringend«,

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