Zärtliche Wildnis
im Herbst sehr übel sein.«
»Ach, denken wir nicht daran«, versetzte Jessie, »vielleicht hat es sich schon wieder verzogen bis wir hinkommen. Jetzt essen wir erst einmal. Wir haben schließlich dafür bezahlt, also können wir es uns auch schmecken lassen.«
Jessie Wheeler und Moira Martin waren freundlich und umgänglich, doch Mrs. Cooke gegenüber verspürte Liz einige Nervosität, und sie hatte den Eindruck, daß die anderen ihre Gefühle teilten, jedoch tapfer entschlossen waren, dies zu ignorieren. Im ganzen sprachen sie sehr wenig von ihren Kindern, und wenn sie es taten, so beiläufig und, wie Liz fand, ganz unmütterlich. Liz spürte, wie ihre Schüchternheit allmählich verschwand, und es dauerte nicht lange, da begann sie schon ganz unbefangen zu sprechen. Die Frauen zeigten Interesse an ihrem Leben. Hatte sie wirklich nichts gelernt? Die Frage kam von Mrs. Cooke, wenn auch die anderen ebenfalls etwas erstaunt waren über die scheinbare Ziellosigkeit von Liz’ Leben.
»Ich wollte schon, aber meine Mutter war lange Zeit krank, und außer mir gab es niemanden, der sich um sie hätte kümmern können.«
Taktvoll wechselten sie das Thema, und Liz stellte mit schlechtem Gewissen fest, daß sie es taten, weil sie glaubten, es fiele ihr schwer, von ihrer toten Mutter zu sprechen. Statt dessen erzählten sie von ihrem eigenen Leben.
»Den Hinterwald gibt es heute nicht mehr, wissen Sie«, sagte eine von ihnen. »Unser Dorf liegt an einer geteerten Straße, aber der nächste Ort ist über dreißig Kilometer entfernt, und wir haben nur eine Tankstelle und einen Gemischtwarenladen, in dem auch die Post untergebracht ist. Und eine kleine Gemeindehalle, die wir selbst gebaut haben. Ich weiß, das klingt fürchterlich, aber wir leben gern dort.«
Liz fand, es klänge nett und anheimelnd. Wieder einmal hatte sie das Gefühl, daß ihr Leben völlig ziellos war, und sie fragte sich wie schon so oft, was sie tun würde, wenn diese Reise vorbei war. Wahrscheinlich würde sie auf eine Handelsschule gehen, dachte sie, wenn sie es allem Anschein nach auch nicht nötig hatte, sich ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen; aber sie konnte nicht einfach daheim in dem großen, leeren Haus herumsitzen und darauf warten, daß sich etwas ereignete. Sogleich verscheuchte sie die Gedanken an die Zukunft wieder. Wenn diese normalen, nicht mehr ganz jungen Hausfrauen es fertigbrachten, all ihre Verpflichtungen für eine Woche zu vergessen, so konnte sie das auch. Besonders, wo sie gar keine hatte. Da eben, vermutete sie, lag der Hase im Pfeffer. Sie war die Außenseiterin.
Sie kletterten wieder in den Bus, gesättigt und recht schläfrig, und fuhren weiter durch wechselnde Landschaften, bis sie schließlich Whangarei erreichten. Doch jetzt erwies sich der Wetterbericht als nur zu wahr. Dicke Tropfen begannen vom Himmel zu fallen, und bald regnete es in Strömen. Die Reisenden hinten im Bus waren verärgert, und Mrs. Cooke, die vorne saß, stimmte in ihre Beschwerden mit ein.
»Da heißt es immer, im Norden wäre das Klima so herrlich. Und jetzt haben wir hier mitten im Herbst das reinste Winterwetter.«
Doch all die anderen Frauen ließen sich ihre gute Stimmung nicht verderben; sie redeten und lachten und begannen sogar gemeinschaftlich zu singen. Mrs. Cooke hüllte sich in grollendes Schweigen, doch bald stimmten die Ehepaare ein, und Liz sang, wenn sie die Lieder kannte, mit ihrer hübschen Altstimme eifrig mit. Als sie am Nachmittag zum Tee vor einem kleinen Restaurant anhielten, regnete es immer noch, und einige der Ehepaare, unterstützt von Mrs. Cooke, zogen es vor, im Bus zu bleiben, nicht aber die übrigen Teilnehmer. Sie zogen Liz mit sich, und plötzlich fühlte sie sich gar nicht mehr so sehr als Außenseiterin, sondern hatte fast das Gefühl, zu der Gruppe zu gehören. Als sie das Restaurant verließen, war der strömende Regen zum Wolkenbruch geworden, und Mrs. Wheeler zog Liz unter ihren Schirm.
»Ihr Regenmantel reicht da nicht mehr aus, und das ist so ein hübsches Kostüm.«
»Es ist neu. Meine Kleider sind alle neu.«
Warum nur hatte sie das sagen müssen?
Jessie Wheeler war vielleicht erstaunt, doch sie stellte keine Fragen.
»Meine Freundin Kay«, fügte Liz erklärend hinzu, »das Mädchen, das mich herbegleitet hat, meinte, ich müßte mir für die Reise unbedingt neue Sachen kaufen. Ich hatte Mutter so lange gepflegt, daß meine Kleider alle aus der Mode gekommen waren. Jetzt komme ich mir
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