Zärtlicher Hinterhalt
Hände. Ihre Fingerspitzen rieben sein Ohr entlang, folgten jeder Kontur, strichen leicht darüber.
Unter ihrer anderen Hand spannte sich seine Schulter. Ja. Es hatte ihn immer erregt, wenn sie sein Ohr liebkoste. Er hatte sich ihr stets willig genähert.
Sie hörte auf, ihn zu küssen, und richtete sich auf. Aus bloßer Vernunft. Um sich an die Regeln zu halten.
Er drängte nicht nach ihr, hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Seine Hände lagen immer noch auf den Armlehnen. Sein Oberschenkel presste sich nach wie vor an ihr Knie. Und er beobachtete sie unentwegt – ohne Pause.
Ihre Lippen fühlten sich geschwollen an, als sie sprach. »Soll ich aufhören?«
»Nein.«
»Das ist wahnsinnig.«
Er antwortete mit einer Ernsthaftigkeit, die von Herzen kam: »Zur Hölle mit der Vernunft.«
ja. ja. Hannah mochte derangiert sein, aber hier, in dieser Zwangslage, saßen zwei Gefangene. Hier, zwischen ihnen beiden, wuchsen unkontrolliert die Emotionen und warfen sie auf die See der Leidenschaft hinaus: Egal, wie sehr er sich auch wünschte, es sei nicht so, er reagierte auf sie. In dieser Hinsicht war seine Disziplin unzureichend.
Ihre Hand glitt an sein Haar, die Schläfe entlang und in die seidigen Strähnen. Sie durchwühlte es mit den Fingern. Weiße Streifen! Gütiger Himmel, ins glänzende Schwarz hatte sich Weiß gemischt, er war doch erst sechsunddreißig. Sie bildete sich ein, den Farbunterschied mit Fingern tasten zu können und dabei seinen Schmerz, seine Einsamkeit und seine Sorgen zu erspüren.
Ob er sehr gelitten hatte? Sie hoffte es inständig.
Unterdessen strich sie ihm das Haar aus dem Gesicht und beugte sich erneut zu ihm hinunter. Seine Lippen … so süß. Bemerkenswert süß für solch einen bitteren Mann. Sie schloss die Augen, und sein leichter Atemhauch reichte aus, ihn schmecken zu lassen. ja, fast schmeckte sie ihn …
Aber »fast« reichte nicht.
Sie öffnete die Lippen auf den seinen und neckte sie, es ihren gleichzutun. Er war ein gelehriger Schüler, bereit, ihrem Beispiel zu folgen, als hätte er nie zuvor Vergleichbares getan. Sie nie verführt, nie dazu gebracht, vor Lust zu jammern, damit sie sich seinem Willen füge.
Verflucht sollte er sein! Ihre Finger klammerten sich in sein Haar. Sie presste ihm ihre Zunge in den Mund und ergötzte sich daran, ihn zu überwältigen.
Und er… würde Dougald sich das bieten lassen? Keinesfalls würde er das. Er antwortete mit drängender Zunge und kämpfte mit ihr um die Herrschaft. Seine Hände legten sich um ihre Taille und hielten sie an ihrem Platz.
Wenn sie sich ihm nun entzog? Genau jetzt, wo sie ihn da hatte, wo sie ihn haben wollte. Unter sich, sie auf Kommando küssend. Sie hatte die Initiative ergriffen. Sollte er nur versuchen, sie ihr zu entreißen …
Eine ernste, kühle Stimme durchdrang Hannahs Versunkenheit. »Wir werden die beiden im Auge behalten müssen.«
Kapitel 7
Benommen ließ Hannah von ihm ab. Sie schaute ihm in die Augen. Einen unbedachten Moment lang ließ er sie Leidenschaft und Zorn sehen. Dann zwinkerte er und …
Nichts. Sie konnte in seinem Blick rein gar nichts lesen; falls er irgendwelche Empfindungen gehabt hatte – irgend
welche –,
dann verbarg er sie gut.
Sofort ließ sie jeden Ausdruck aus ihrem eigenen Gesicht verschwinden, versuchte, an gar nichts zu denken, und schaute sich um, woher wohl die Stimme gekommen war.
Von der Tür. Vier ältere Damen, unterschiedlich in Wuchs und Figur, standen auf der Schwelle und betrachteten Hannah und Dougald mit Mienen, die von missbilligend bis höchst interessiert reichten.
»Was für eine Erleichterung!«, rief die vergleichsweise dunkelhäutige Dame mit dem rundlichen Gesicht. »Der gute Dougald ist fast schon ein Jahr lang hier und hat nie irgendwelches Interesse an Frauen gezeigt. Ich habe schon angefangen, mir Sorgen zu machen, ob er vielleicht nach einer ganz anderen Melodie tanzt.«
»Isabel, ich beschwöre dich, nicht so geradeheraus!« Eine weißhaarige Dame schüttelte tadelnd den Kopf.
»Aber Ethel, du hast dich doch selber schon gewundert!« Im Gegensatz zu Ethel hatte Tante Isabel verdächtig schwarze Haare.
»Ja, aber gesagt hätte ich es nie!«
»Er hat mich doch wahrscheinlich gar nicht gehört.«
»Taub müsste er sein, dich nicht zu hören.«
»Pah!«
Während sie sich zankten, löste Hannah sich von Dougald und richtete sich auf. In kühlerem Licht betrachtet, erschien ihr Racheakt unbesonnen und kläglich
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