Zärtlicher Hinterhalt
Zerstreuungen, die sich ihr boten. »Wohin führen Sie mich, Sir?«
»Mein erster Gedanke war das Frühstückszimmer, aber wenn Sie es vorzögen, holde Maid, dann ließe ich mein Pferd holen, würfe Sie mir auf den Sattel und brächte Sie weit weg von der Ödnis des Alltagslebens!«
Sie beäugte von oben seinen Kopf und dachte bei sich, dass die Chancen, von Onslow irgendwo hingeworfen zu werden, eher schlecht standen. »Das Frühstückszimmer erscheint mir sehr reizvoll.« Auch wenn dort zweifelsohne Dougald lauerte.
Sir Onslow seufzte schwer. »Wie so vielen jungen Damen mangelt es leider auch Ihnen an Fantasie.«
»Es mangelt mir durchaus nicht an Fantasie. Aber ich bin geschlagen mit einer schweren Form von Realitätssinn.«
Und dem sicheren Wissen, dass Dougald sie wie der Blitz verfolgte, wenn sie versuchte, aus Raeburn Castle zu fliehen. Keinesfalls würde sie einen anderen Mann in ihre Auseinandersetzung mit Dougald hineinziehen; denn jemand würde Verletzungen davontragen, und dieser jemand wäre nie und nimmer Dougald.
Hannah und Sir Onslow gingen die lange, breite Galerie entlang, die vom Treppenhaus zum Foyer führte.
»Sie sind, mit unseren Tanten sicher schon bekannt gemacht worden«, ergriff er wieder das Wort. »Genauer gesagt, Tante Spring und ihren Freundinnen. Die Damen weisen mich übrigens immer darauf hin, dass sie doch alle meine Tanten sein könnten.«
Seine finstere Miene brachte Hannah zum Lachen. »Ich durfte sie gestern Abend kennen lernen.«
»Und wie haben sie Ihnen gefallen?«
»Es sind bezaubernde Damen, und ich bin sicher, dass es mir ein Vergnügen sein wird, mich um Tante Spring zu kümmern.«
»Wie taktvoll Sie doch sind!« Er hörte sich aufrichtig enttäuscht an, aber seine Miene hatte sich aufgehellt. »Mir kommen die Tanten jedes Mal wie ein Rudel Terrier vor. Sie umkreisen einen, hüpfen an einem hoch, schnappen und bellen.«
Hannah verkniff sich ein Lächeln. »Aber kein Rudel, Sir. Dazu sind sie ihrem Wesen nach zu verschieden.«
»In der Tat! Sehr verschieden, dem Wesen nach. Aber als Ganzes genommen sind sie lästige, voreingenommene Besserwisserinnen.«
»Sie scheinen etwas bitter, Sir Onslow.«
»Keineswegs. Ich liebe sie alle. Wer täte das nicht?« Er seufzte tief und theatralisch. »Ich wünschte nur, sie besäßen eine Unze mehr an Diskretion.«
Nach alledem, was sie letzte Nacht erlebt hatte, musste Hannah ihm Recht geben. Die Damen sagten, was ihnen gerade durch den Kopf schoss, und das wäre manches Mal besser ungesagt geblieben. Die Kommentare der Damen, Dougald und sie betreffend, waren dennoch scharfsinnig gewesen und ihr Weitblick erschütternd. Es erleichterte sie sehr, als sich Dougald letzte Nacht zurückgezogen hatte und sie mit den vieren alleine im Salon zurückgeblieben war, wo sie einfach ständig gelächelt und genickt hatte, während die Ladys sich unterhielten. Und am Ende hatte sie dann Erschöpfung vorgeschützt und sich von Mrs. Trenchard zu ihrer engen, kalten, schäbigen Schlafkammer bringen lassen.
Um schlecht zu schlafen und von Dougald zu träumen.
Mit dem Sonnenlicht, das durch die Reihen der Fenster auf der anderen Seite fiel, sah der Gang bei Tag ganz anders aus. Hannah hatte die Fenster am Abend zuvor gar nicht bemerkt und konnte sich auch kaum vorstellen, wie sich das Schloss nach innen winden musste, um an dieser Stelle Fenster überhaupt möglich zu machen. Aber praktisch hatte jedes mittelalterliche Gebäude, das sie bis dato gesehen hatte, solch exzentrische Finessen zu bieten. »Ein interessanter Ort, dieses Raeburn Castle«, stellte sie fest.
»Ein elender Haufen alter Steine«, meinte Sir Onslow. »Aber es ist nun einmal
unser
Steinhaufen, und wir lieben ihn.«
»Lord Raeburn lässt, wie ich sehe, einiges herrichten.« Sie deutete auf die an die Wand gelehnte Tür neben dem offen stehenden Raum, aus dem jetzt Stimmen von Handwerkern drangen.
»Der neue Hausherr ist ein Barbar ohne jeden Sinn für Geschichte«, schnaubte Onslow. »Aber was noch schlimmer ist, meine Räume lässt er erst renovieren, wenn er mit den seinen fertig ist. Aber was soll man schon von einem Rohling erwarten, der seine eigene Frau umbringt?« Er schaute sie forschend an und wartete auf eine Reaktion.
Hannah verspürte den starken Wunsch, ihn zurechtzuweisen. Doch sie blieb nur stehen und fragte mit ihrem hochmütigsten Gouvernanten-Blick: »Wissen Sie das bestimmt, oder verbreiten Sie nur Gerüchte?«
»Gerüchte, natürlich!« Sir
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