Zärtlicher Hinterhalt
sich ziemlich muffig an, als sie nachfragte: »Hat Lord Raeburn persönlich nach mir geschickt?«
»Natürlich schickt er nicht selber nach Ihnen!« Sir Onslow stand vor Entrüstung auf Zehenspitzen. »Kein Gentleman lässt vor dem Frühstück nach einer Dame rufen!«
Hannah überhörte ihn schlicht. »Charles?«
Charles blickte sie finster an. »Nicht direkt, aber ich kann … er braucht wirklich … ich hoffe inständig, dass Sie …«
Hannah wusste nicht, was Charles hoffte, aber sie hörte seinem Gestammel zu, sah ihn um eine Erklärung ringen und begriff, dass er nicht sagen konnte, was er gerne gesagt hätte. Dass es nicht Sache einer Ehefrau sei, die Wünsche ihres Ehemanns zu hinterfragen. Ah, ein Charles, der sich wand wie ein Wurm, war vielleicht das einzig Erfreuliche an dieser schrecklichen Zwangslage.
»Danke.« Sie lächelte genauso kalt zurück, wie Charles sie anstarrte. »Ich fürchte, ich muss Sir Onslow Recht geben. Wenn Lord Raeburn nicht ausdrücklich nach mir geschickt hat, dann warte ich bis nach dem Frühstück, bevor ich ihn aufsuche.«
Der Kammerdiener stand versteinert und ungläubig da, während Onslow in Richtung der Tür gestikulierte. »Gleich hier hinein!« Sie ließen Charles stehen, und Sir Onslow verkündete hörbar: »Viele Frösche machen eine Menge Wind und haben nicht die leiseste Ahnung von Manieren!«
In etwa konnte Hannah sich vorstellen, wie es dem Mann, der sich als Vorreiter der französischen Kultur in einem barbarischen England betrachtete, dabei zumute war, als Frosch bezeichnet zu werden, und sie hatte jede Menge Vergnügen an dieser Vorstellung.
Sie und Onslow durchquerten einen kleinen, derzeit verlassenen Raum mit einem runden, zierlichen Tisch am Fenster.
»Das ist der kleine Speisesaal«, erklärte er. »Wenn vier oder weniger zusammen speisen, wird hier serviert. Das heißt, nie. Lord Raeburns Gastfreundschaft ist wirklich … sprichwörtlich. Da wären wir, Miss Setterington – das Frühstückszimmer!«
Hannah ging der Nase nach zur nächsten Tür. Der kräftige, salzige Geruch von Bacon, Würstchen und Räucherhering wehte durch die Luft, unterlegt vom warmen Duft der Muffins und Sauerteigbrötchen. Sie betrat einen holzverkleideten Raum, in dem eine lange Tafel etwa zwei Dutzend Gästen Platz bot. Dampfende Schüsseln standen auf der Anrichte. Es wimmelte von geschäftigen Dienstboten und älteren Damen mit erstaunlichem Appetit.
»Da sind sie ja!«, rief Tante Spring. »Ich habe euch gesagt, dass sie zusammen herunterkommen würden.« Dann blinzelte sie in Sir Onslows Richtung. »Dich hatte ich natürlich nicht gemeint.«
»Herzlichen Dank, Tante.« Sir Onslow wies auf die beiden leeren Stühle zwischen Miss Minnie und Tante Ethel. Als er Hannah den Stuhl zurechtrückte, fragte er: »Wen hatten Sie denn erwartet?«
»Ich glaube, sie dachte, der liebe Dougald würde Miss Setterington herunterbegleiten.« Tante Ethels Gabel schwebte über einem ganzen Berg Rühreier und Hering. »Sie schienen gestern Abend sehr miteinander beschäftigt zu sein.«
»Haben sich Ihre Interessen gewandelt?«, fragte Tante Isabel Hannah. »Das wäre schade. Seaton ist zwar ein lieber junge, aber arm wie eine Kirchenmaus, und der Titel ist gerade mal eine Generation alt.«
»Auch Ihnen, herzlichen Dank, Madam!« Onslow trug den gleichen schicksalsergebenen Ausdruck im Gesicht, der Hannah schon bei Dougald aufgefallen war. Er setzte sich neben Hannah und hob den Finger.
Mrs. Trenchard verließ ihren Posten neben der Anrichte und eilte herbei. »Was darf ich Ihnen bringen, Sir Onslow?«
Mit lässiger Handbewegung wies er auf Hannah. »Was möchten Sie, Miss Setterington?«
»Eine heiße Schokolade, bitte, Mrs. Trenchard.« Vielleicht würde das die Kopfschmerzen kurieren, die die bloße Erwähnung Dougalds ihr beschert hatte.
»Für Alkohol ist es noch zu früh, also nehme ich einen Tee«, verkündete Sir Onslow.
Mrs. Trenchard lächelte ihn liebevoll an und eilte davon, um die Bestellung an eine Serviererin weiterzuleiten.
Ihr neuer Freund lehnte sich nah zu Hannah hinüber. »Nun, da haben wir mal einen interessanten Charakter.«
Hannah folgte seinem Blick. »Mrs. Trenchard?«
»Ja. Stammt aus einer alteingesessenen Familie, ergebene Gefolgsleute. Tante Springs Mutter ist im Kindbett gestorben. Also haben sie als Amme Mrs. Trenchards Mutter hergeholt, die dann einfach nicht mehr gegangen ist. Bis zu ihrem Todestag ist sie an Tante Springs Seite gewesen und hat
Weitere Kostenlose Bücher