Zärtlicher Hinterhalt
ich sehen wollte, ob die Berichte zutreffen.«
Wer war dieser Lackaffe, der ihr gerade bis zum Kinn reichte, aber an den glänzenden Stiefeln höhere Absätze trug als Hannah selbst und der sich solche Freiheiten herausnahm? »Berichte?«
»Dass die schönste Lady im ganzen Land unterm ehrwürdigen Dach von Raeburn Castle Wohnung genommen hat.«
Hannah starrte ihn an. Glaubte er etwa, sie mit solchen Schmeicheleien beeindrucken zu können? Sie wusste genau, wie sie heute Morgen aussah in ihrem einfachen, puderblauen Baumwollkleid, die langen Ärmel sparsam mit Spitzenbändern besetzt. Eng um den Hals hatte sie sich den allerschlichtesten weißen Kragen angesteckt und sich, nach innerem Kampf, eine gestärkte weiße Schürze um die Taille gebunden. Es wäre dumm gewesen zu glauben, dass ein solch hausbackener Aufzug Dougald abschrecken könnte. Aber sie konnte sich wenigstens an dem Gedanken erfreuen, sich absolut dezent gekleidet zu haben.
»Ah, Sie fragen sich sicher, wer ich bin? Könnte es sein, dass Ihnen mein Cousin meine Existenz verschwiegen hat?« Der Fremde legte sich theatralisch den Handrücken an die Stirn. »… obwohl ich doch sein Erbe bin?«
Das sollte Dougalds Erbe sein? Sie musterte ihn. Er trug karierte Wollhosen in Braun und Blau mit feinem gelben Streifen, eine passend karierte Weste, eine Halsbinde samt großer Schleife und goldener Diamantnadel. Der braune Gehrock war mit Stulpen und Kragen aus schreiend kobaltblauem Samt besetzt, welcher farblich zu seinen dicht bewimperten Augen passte, die an seinem Gesicht das Beste waren und in ihrer Melancholie einem Byron zur Ehre gereicht hätten. Unglücklicherweise verfügte er nicht über die Byronsche Haarpracht, sondern trug sein Haar seitlich lang und – mutmaßlich von einem talentierten Kammerdiener sorgsam über das kahle Rund auf seinem Haupt gekämmt … das aber dennoch stückweise und blässlich zwischen den pomadigen Strähnen durchschien.
Hannah tat so, als bemerke sie es nicht. »Sie … leben hier?«
»Jawohl.« Er inspizierte die Rose, die sich immer noch in seiner Hand befand, und Hannah begriff, dass er sich nicht der Schönheit wegen für diese Blüte entschieden hatte, sondern weil sie farblich zum gelben Streifen des Karos passte. »Wenn ich nicht in London weile, halte ich mich auf Raeburn Castle auf.«
»Ich bitte um Verzeihung für meine Unwissenheit, Sir.« Unwillkürlich grinste Hannah. Nach und nach wurde ihr bewusst, welchen Prüfungen Dougald in seiner neuen Position ausgesetzt war. Sie weidete sich an seiner Misere, obwohl sie dies möglicherweise bald bereute. Dougald war immer so ambitioniert gewesen, was ihn selbst und seine Familie betraf. Als er das Anwesen hier übernahm, musste er sich am Ziel seiner Träume gewähnt haben. Aber mit den alten Damen, diesem Erben und seiner eigenen Frau hatte er sich vielleicht doch übernommen. Nicht dass Dougald je von sich geglaubt hätte, sich übernehmen zu können – doch Hannah glaubte es. Und hatte es sich oft rachsüchtig ausgemalt. »Ich fürchte, man hat mir wirklich nichts von Ihrer Anwesenheit berichtet.«
»Wenn ich dann so kühn sein darf, mich selbst vorzustellen – Seaton Brackner, Baron Onslow, Sohn des jüngsten Bruders des zwölften Earls und des derzeitigen Lord Raeburns fünfter Cousin ersten Grades!«
Sie knickste. »Hannah Setterington, Sir. Ich bin als Gesellschafterin Seiner Lordschafts Tante, die, wie ich annehme, auch die Ihre ist, nach Raeburn Castle gekommen.«
»Dann stimmt es also.« Er verneigte sich und streckte ihr erneut die Rose hin. »Die schönste Lady im ganzen Land
hat
hier Quartier genommen!«
Hannah akzeptierte feierlich die Rose. »Sie schmeicheln mir, Sir. Aber ich bin zu empfindsam, als dass ich Ihnen gestatten könnte, mir den Kopf zu verdrehen. Ich werde Ihr Interesse als Laune eines vom Landleben gelangweilten Londoner Mitglieds der Gesellschaft einordnen.«
»Sie versetzen mir den Todesstoß!« Er bot ihr den Arm an, und Hannah legte die Hand auf seinen Ärmel. »Besser gesagt, Sie hätten ihn mir
beinahe
versetzt. Doch ich beginne zu glauben, dass Sie niemals in einen Spiegel sehen – denn sonst wüssten Sie, wie ernst gemeint meine Bewunderung ist.«
Sie korrigierte ihren ersten Eindruck. Sir Onslow war nicht nur ein kleiner Lackaffe. Sondern eher der Städter, der auf dem Lande vor sich hin litt, weil es ihm vermutlich an Geld fehlte. In ihrer heiklen Situation war Onslow mutmaßlich eine der wenigen
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