Zärtlicher Sturm
Pferd, Billy, ja?« sagte Slade, ohne Sharisse aus den Augen zu lassen. »Es war ein besonders nervenaufreibender Tag.«
Sharisse hielt den Atem an. Sie beide miteinander allein? Nein, danke.
»Ich glaube, ich suche Lucas jetzt lieber, statt hier auf ihn zu warten«, sagte sie eilig.
»Jetzt wartest du erst mal«, sagte Billy. Er bückte sich, um ein großes Stück Fleisch in ein Stück ungegerbtes Leder zu wickeln. Er warf es ihr zu. »Wenn du ohnehin zu ihm gehst, kannst du ihm das auch gleich mitnehmen, und ich kann mir die Mühe sparen – für den Fall, daß er sich die ganze Nacht zu dem Hengst legen will.«
»Wenn er erst weiß, daß ich hier bin, wird er zu uns kommen«, sagte Slade. »Ich freue mich schon darauf, ihn zu sehen. Halte ihn nicht zu lange auf, meine Schöne.« Er sah ihr in die Augen. »Mein Bruder und ich – wir haben etwas miteinander zu regeln, und ich habe keine Lust, es aufzuschieben.«
Sharisse rannte fast. Sie fühlte sich überhaupt nicht sicher, auch dann nicht, als sie Slade hinter sich zurückgelassen hatte. Der schmale Pfad wurde breiter, doch das Tageslicht war fast erloschen, und sie konnte kaum noch etwas sehen. Alles war dunkel, und bedrohliche Schatten fielen herab, insbesondere auf der Seite des Weges, die steil abfiel.
Sie begab sich immer weiter in die unbekannte Wildnis hinein, aber sie wußte nicht, wie weit sich Lucas von dem Schlafplatz entfernt hatte und wie weit sie noch laufen mußte. Sie konnte nur beten, daß sie ihn finden würde, solange es noch nicht stockdunkel war. Wenn sie ihn nicht fand, hieß das, daß sie die Nacht allein mit Slade und Billy verbringen mußte. Sie wußte ohnehin nicht, ob sie sich nicht schon längst verirrt hatte. Sobald sie von absoluter Dunkelheit umfangen war, sah sie den Schein eines Feuers. Sie lief auf das Feuer zu. Direkt am Feuer stand das Pferd, das an einem Pflock im Boden festgebunden war. Sie stand auf einer kleinen, runden Fläche, die von Geröll umgeben war, eine Sackgasse, wenn man nicht so behende war, einen dieser glatten Felsen zu besteigen.
Lucas war offensichtlich so behende. Er lag flach auf dem Bauch auf den riesigen Felsen und hielt eine Waffe auf sie gerichtet. Sharisse erstarrte.
»Sharisse? Was, zum Teufel, tust du denn hier?«
Er sprang mit Leichtigkeit in einer einzigen gleitenden Bewegung von dem Felsen herunter und lief zu der Decke am Feuer. Er steckte die Pistole wieder in den Halfter, der neben seinen Satteltaschen lag. Sein Anblick gab ihr zu denken. Er trug kein Hemd. Seine blaue Hose steckte in seinen kniehohen schwarzen Wildlederstiefeln, ganz wie bei Slade.
»Lucas? Du bist es doch, oder nicht?«
»Was ist denn das für eine merkwürdige Frage?«
»Eine entscheidendere Frage, als du glaubst«, sagte sie, und sie spürte die gesamte Anspannung der letzten Stunden auf sich lasten.
»Du hast meinen Bruder kennengelernt?« fragte er. »Ist das der Grund, aus dem du nicht mehr sicher bist, ob ich es bin, Shari?«
Shari. Mehr brauchte sie nicht zu hören. Slade konnte nicht wissen, wie Lucas ihren Namen abkürzte. Dazu noch die französische Betonung!
»O Lucas!« Sie lief auf ihn zu und schlang ihre Arme um ihn, und es war ihr auch ganz gleich, daß seine Brust entblößt war. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, dich zu sehen!«
»Das sehe ich selbst«, murmelte er, während er sie an sich drückte. »Aber vielleicht solltest du mir das jetzt doch erklären.«
Sie hielt ihn fest und konnte gar nicht fassen, was für ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit er ihr vermittelte. »Es war gräßlich«, sprudelte sie heraus. »Ich hoffe, es stört dich nicht allzu sehr, aber ich muß dir sagen, daß ich deinen Bruder absolut nicht leiden kann.«
Er hielt sie auf Armeslänge von sich, um ihr ins Gesicht sehen zu können. »Was hat er getan?«
»Er …« Sie unterbrach sich. Jetzt, da sie wieder in Sicherheit war, kam sie sich fast albern dabei vor, daß sie sich derart gefürchtet hatte. Würde er sie auslachen, wenn sie es ihm erzählte? »Oh, müssen wir jetzt darüber reden? Ich glaube … ich habe dir dein Abendessen mitgebracht, sieh mal.« Sie drückte ihm das Stück Fleisch in die Hand, das sie auf dem ganzen Weg umklammert hatte. »Billy war nicht sicher, ob du heute nacht zu ihm zurückkommst, und daher hat er mir das mitgegeben.«
»Aber wie bist du hierhergekommen?«
»Slade hat mich hergebracht.«
»Soll das heißen, daß er hier ist? Warum hast du das denn
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